China hat es vorgemacht, Österreich, Italien und Spanien machen es nach: häusliche Quarantäne, soziale Distanzierung und sogar Hausarrest. Aber wie lange müssen solche Maßnahmen aufrechterhalten werden, um COVID-19 einzudämmen? Welche Maßnahmen sind die wirksamsten? Und was passiert, wenn die Maßnahmen gelockert oder durchbrochen werden? Diese Fragen wollen Londoner Forscher um den Modellierer Neil Ferguson vom Imperial College mithilfe einer Modellrechnung beantworten helfen.
Die Wissenschaftler analysierten den Einfluss von fünf verschiedenen Maßnahmen in unterschiedlichen Szenarien für das Vereinigte Königreich (UK) und die Vereinigten Staaten von Amerika (USA). Sie basieren ihr Modell auf bestimmten Annahmen, wie sich das Virus SARS-CoV-2 verbreitet, wie die Gesundheitssysteme ausgestattet sind und wie schwer die COVID-19-Erkrankung verläuft. Alle Annahmen basieren hauptsächlich auf Daten aus China, aber auch Erfahrungen aus Italien fließen ein.
Absagen von Großveranstaltungen: kaum Einfluss
Dabei unterscheiden die Forscher zwischen zwei Zielen: die Ausbreitung des Virus vollständig zu unterbinden (supression) und dem Eindämmen (mitigation), was mittlerweile unter dem Ausdruck „flatten the curve“ bekannt ist. Die fünf untersuchten Maßnahmen sind:
- Isolation eines Infizierten für sieben Tage in seinem Zuhause,
- freiwillige Quarantäne aller im Haushalt eines Infizierten lebenden Personen für 14 Tage,
- soziale Distanzierung der über 70-Jährigen,
- soziale Distanzierung der gesamten Bevölkerung sowie
- Schließung der Schulen und Universitäten.
Sie betrachteten zusätzlich noch die Absage von Großveranstaltungen; diese Maßnahme hatte jedoch kaum einen Einfluss.
Stark zusammengefasst: Die Autoren empfehlen die Kombination der Maßnahmen Fallisolation, Quarantäne des gesamten Haushalts und sozialer Distanzierung der gesamten Bevölkerung – wenn ein Staat sich dessen im Stande sieht. Eine Erweiterung um Schulschließungen hat dem Modell zufolge einen noch größeren Effekt. Insgesamt sind die Maßnahmen in den Rechnungen für fünf Monate in Kraft.
Covid-19 wird nach Lockerung der Maßnahmen wieder auftreten
Gleich, welche Strategie gewählt wird: COVID-19 wird dem Modell zufolge nach einem Lockern der Maßnahmen nach etwa zwei Monaten wieder auftreten und die Fallzahlen werden wieder in die Höhe schnellen. Diese Ausschläge überlasten in beiden Strategien die Kapazität des Gesundheitssystems im UK. Die Wissenschaftler schlagen daher ein an die Fallzahlen angepasstes Ein- und Ausschalten der Maßnahmen vor.
Fallisolation und Quarantäne der Haushalte sollen kontinuierlich fortgeführt werden, währenddessen soziale Distanzierung der gesamten Bevölkerung und Schulschließungen erst ab einem Grenzwert von Fällen zum Einsatz kommen. Generell gilt jedoch die Empfehlung: Weiter machen, bis ein Impfstoff verfügbar ist.
Was die Modelle nicht berechnen, sind die einschneidenden volkwirtschaftlichen Folgen der Maßnahmen; ebenso bleibt unklar, welche gesundheitlichen Folgen es hat, elektive Eingriffe zu verschieben und ärztliche Behandlungen zu verzögern. Fachleute sprechen in solchen Fällen von Übersterblichkeit.
Aus der Wissenschaft melden sich schon kritische Stimmen aus Cambridge: Die Autoren einer Antwort auf die Berechnungen von Ferguson und Kollegen sehen viele Faktoren nicht beachtet und schließen, dass eine vollständige Eliminierung des Virus ohne wieder aufflammende Fallzahlen in ihren Augen noch im Rahmen des Möglichen liegt.
Reaktionen anderer Experten:
Prof. Dr. Rafael Mikolajczyk,
Direktor des Instituts für Medizinische Epidemiologie, Biometrie und Informatik, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
„Wir kommen mit einem sehr vereinfachten Modell zu ähnlichen Ansichten – die Eindämmung der Epidemie ist eine jetzt noch mögliche Strategie und sollte verfolgt werden. Die Einschätzung der Wirksamkeit der Maßnahmen ist nicht so entscheidend – grundsätzlich kann man aus dem Verlauf in Wuhan schließen, dass Maßnahmen zur Eindämmung in einer Kombination wirksam sein können. Die Maßnahmen müssen nicht vom Staat verordnet werden, sondern es geht darum, dass die Gesellschaft es aufnimmt und freiwillig verfolgt. Wichtig ist das Ergebnis der Publikation, dass eine Verlangsamung der Epidemie – also nur partielle Umsetzung der Maßnahmen – die schlechtere Lösung ist.“
„Unter dem Szenario der Eindämmung wird nur ein kleiner Prozentsatz der Menschen in Deutschland die Erkrankung in der ersten Welle durchmachen – immer, wenn es zu einer erneuten Einschleppung und Verbreitung kommt, müssen die Maßnahmen eingeführt werden – vielleicht nur lokal. Aber dann muss viel mehr getestet werden und Einreisende müssen aus Risikogebieten in die Quarantäne. In diesem Zustand müssen wir auf eine Impfung warten.“
Auf die Frage, wie es bewertet wird, dass das Absagen von Großveranstaltung keinen großen Effekt haben soll:
„Das ist möglich – die Einzelmaßnahmen müssen nicht unbedingt sinnvoll sein und funktionieren – auch Schulschließung hat zum Teil fragliche und zum Teil negative Effekte. Es geht immer auch darum, was die Gesellschaft daraus macht. Eine wichtige Frage ist, wie transportieren wir die Botschaft in die Gesellschaft, sodass die Menschen zu Hause bleiben und/oder draußen Abstand voneinander halten? Wenn Schulschließung dabei hilft ist, es gut.“
„Es kann durchaus sein, dass wir auch jetzt die Hälfte der Fälle nicht erkennen. Diese Zahl wirkt sich im Endeffekt nur darauf aus, wie lange wir noch Zeit haben, die strengen Maßnahmen der Eindämmung einzuführen.“
Prof. Dr. Thomas Götz,
Professor für Angewandte Mathematik und mathematische Modellierung, Universität Koblenz-Landau, Koblenz
und Dr. Wolfgang Bock,
Dozent in der Arbeitsgruppe Technomathematik, Technische Universität Kaiserslautern
„Die Arbeit von Ferguson et al. ist eine sehr interessante Studie über die Auswirkungen verschiedener im Moment zugänglicher Maßnahmen gegen die Ausbreitung von COVID-19. Die Basis der Studie ist eine Mikrosimulation auf Zensusdaten beziehungsweise Haushaltstruktur in Großbritannien und den Vereinigten Staaten. Die Annahmen und Werte, die in der Studie gewählt wurden, sind plausibel, jedoch muss die Stimmigkeit der Details noch genauer nachgeprüft werden.“
„Das Paper geht von zwei Strategien aus, die verglichen werden: Die erste heißt Mitigation, das bedeutet, man versucht durch Maßnahmen die Kurve des Ausbruchs abzuflachen, jedoch nicht soweit, dass die Krankheit vollständig ausgelöscht ist. Die Idee hierbei ist es eine wachsende Herdenimmunität auszunutzen. Die zweite Strategie Suppression verwendet sehr strenge Maßnahmen, um die Krankheitsausbreitung subkritisch werden zu lassen und dementsprechend aussterben zu lassen.“
„Hierzu möchten wir Folgendes anmerken: Unserer Meinung nach kann man die Faustregel ‚Je stärker die Maßnahmen, desto schneller kommt man durch die Krise‘ anwenden. Bei einer Social Distancing Strategie, welche gegebenenfalls danach noch gelockert wird, kommt es in realistischer Abschätzung sicherlich zu einem erneuten Ausbruch. Das Szenario mit einer on-off-Strategie ist interessant, hierbei wäre es aber wichtig zu sehen, was passiert, wenn die Intervalle etwas größer gewählt werden. Gegebenenfalls erreicht man dann bereits ein Aussterben des Ausbruchs.“
„Deutschland hat etwa dreimal mehr Intensivbetten als UK. Selbst wenn man dies berücksichtigt, ist mit einer Versorgung aller Fälle in keinem Szenario zu rechnen.“