Sind die Maßnahmen, die von der Bundesregierung getroffen wurden, um das Coronavirus einzudämmen, zu lasch? Diesen Schluss legt die Prognose von Forschern der Med Uni Wien nahe, die Entwicklungskurven aus anderen Ländern mit jener in Österreich verglichen haben. Sie stellten fest: Während Länder wie China und Singapur die Ausbreitung des Virus mit extremen Maßnahmen unter Kontrolle gebracht haben, schreitet sie in europäischen Ländern exponentiell voran.
Stefan Thurner, einer der Autoren der Prognose, zeigt auf: Momentan verdoppelt sich die Zahl der Infizierten in Österreich alle zwei Tage und acht Stunden. In Italien, das den Forschern als Vorbild für Österreich dient, konnten die dort verhängten Maßnahmen nur dazu führen, dass sich die Verdoppelungszeit auf drei Tage und zwei Stunden erhöht hat – zu wenig, sagt Thurner, denn die Ansteckung entwickelt sich noch immer exponentiell. „Italien ist an seinen Kapazitätslimits angelangt und wenn die Ausbreitung in Österreich so weitergeht, könnte das Kapazitätslimit an Intensivbetten in 14 Tagen erreicht sein.“
Im Vergleich dazu sei es in China oder Singapur mit weit drastischeren Maßnahmen (Quarantäne, Verkehr und öffentliches Leben stark eingeschränkt, flächendeckendes Fiebermessen) gelungen, die exponentielle Verbreitung zu stoppen. Thurner: „Wir brauchen stärkere Maßnahmen als jene, die in Italien vor zwei Wochen eingeführt wurden.“
Zahlen hinken hinterher
Die lange Inkubationszeit von Covid-19 macht es schwierig, zu bewerten, wie gut Maßnahmen wirken: Die Zeit von der Ansteckung bis zu den ersten Symptomen liegt bei fünf bis 14 Tagen – daher hinken die Erkrankungszahlen den tatsächlichen Fällen hinterher. Und auch die Effekte der Maßnahmen werden erst mit dieser Zeitverzögerung sichtbar.
#flattenthecurve, also „Flacht die Kurve ab“: Dieses Schlagwort verbreitet sich gerade im Netz und beschreibt die Bestrebungen, die Ausbreitung der Epidemie flach zu halten und eine Explosion der Fallzahlen zu verhindern. Der Hintergrund: Die Zahl der Schwererkrankten darf die Kapazitäten der Krankenhäuser nicht überschreiten – sonst kommt es zum Kollaps im Gesundheitssystem.
360.000 statt 2 Millionen
Den Berechnungen von Stefan Thurner stehen jenen von Niki Popper, Simulationsexperte der TU Wien, gegenüber. Gestern veröffentlichte er neue Prognosen dazu, wie die Maßnahmen in Österreich wirken könnten. Die Zahlen: Schaffen wir es, die sozialen Kontakte um 25 Prozent zu senken, dann reduziert sich der Peak (der Höhepunkt der Epidemie) von zwei Millionen Infizierten in Österreich auf 360.000 gleichzeitig Infizierte.
Durch eine solche Senkung der sozialen Kontakte würde sich der Höhepunkt der Epidemie auch nach hinten verschieben: Ohne Maßnahmen hätten wir den Höhepunkt der Epidemie im Mai, bei 25 Prozent weniger sozialen Kontakten erst am Ende des Sommers. Für diese Berechnungen ist Popper vom schlimmstmöglichen Fall ausgegangen, nämlich, dass sich 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung mit dem Virus infizieren.
„Der Beitrag jedes Einzelnen ist jetzt entscheidend“, sagt Popper. Wenn nicht jeder alles tut, um seine sozialen Kontakte einzuschränken – statt ins Kino zu gehen einen Spaziergang machen, bei dem man niemanden trifft, zum Beispiel – werde die Eindämmung nicht gelingen.
Welche Maßnahmen sind wie erfolgreich? Im Ranking steht das Finden und Abschotten von Infizierten an erster Stelle: Dadurch können Infektionsherde erstickt werden. Danach folgt die soziale Distanz: Hier ist es laut Popper besonders wichtig, „Super-Spreader“, also Superverbreiter zu verhindern: Das sind Infizierte, die jeden Tag sehr viele soziale Kontakte haben und dadurch zu Infektionsketten führen. Als Beispiel nennt er Kindergärtnerinnen, die eine Gruppe von Kindern anstecken könnten und diese das Virus wiederum nach Hause in die Familie tragen.
Auch Menschen, die mit besonders vielen Risikopersonen zu tun haben, Stichwort Pflegeheim oder Krankenhaus: Gibt es einen Infizierten, ist auf einen Schlag eine große Anzahl von Hochrisikopatienten betroffen. „Hier muss Österreich noch besser werden“, sagt Popper.