"Wann ich das erste Mal absichtlich Alkohol trank, weiß ich nicht mehr“, sagt die Schauspielerin Muriel Baumeister. Bei ihr zu Hause sei das Trinken etwas Normales gewesen, „gerade in der Generation meiner Eltern. Alkohol war ein gesellschaftlich anerkanntes Genussmittel“. Dass ihr Vater Alkoholiker war, habe sie als Kind nie wirklich mitbekommen.
Irgendwann war sie selbst gefangen in diesem teuflischen Kreislauf: „Der Alkohol gab mir Sicherheit und steigerte mein Selbstwertgefühl – aber ich brauchte mehr, immer öfter und immer härtere Sachen“, erzählt sie. Und das Verheimlichen klappte eine Weile ziemlich gut, „weil ich mich an einen so hohen Pegel gewöhnt hatte, dass ich nur ganz selten betrunken wirkte“. 2017, nach zwei erfolglosen Entzügen, kam dann aber der Zusammenbruch mit massiven Panikattacken und der Einsicht: „Wenn ich jetzt nicht die Ausfahrt nehme, ist es vorbei.“ Der dritte Entzug war schließlich erfolgreich.
Wenn Prominente und gar noch Frauen – wie jetzt die Schauspielerin Muriel Baumeister – ganz offen über die eigene Alkoholsucht und das mühsame Trockenwerden sprechen, dann lenkt das den Fokus auf ein Problem, über das man hierzulande nicht gern spricht: den Umgang mit Alkohol. "Ist der in Österreich tatsächlich besonders problematisch?" fragen wir den Psychiater und Suchtexperten Michael Musalek.
MICHAEL MUSALEK: Beim Pro-Kopf-Verbrauch von Alkohol, der Anzahl der Alkoholkranken und jugendlichen Problemkonsumenten liegt Österreich immer im Spitzenfeld, unter den Top 5 oder Top 10 der Welt. Das hat einerseits damit zu tun, dass Alkohol in Österreich besonders gut verfügbar ist - andererseits ist es sozial akzeptiert, ihn auch in größeren Mengen zu trinken. Wir haben ein geringes Problembewusstsein im Umgang mit Alkohol. Außerdem liegen wir genau in der Schnittfläche zwischen nördlichem und südlichem Alkoholkonsum. In Skandinavien ist das Rauschtrinken mit sehr großen Mengen in kurzer Zeit weit verbreitet, danach folgt aber eine lange Abstinenz. Im Süden regiert wiederum der regelmäßige Alkoholkonsum, aber niedrig dosiert. Bei uns kommt beides zusammen. Damit liegen wir in der Weltspitzengruppe.
Offiziell wird Alkohol ja als Genussmittel getrunken.
MICHAEL MUSALEK: Offiziell schon, inoffiziell wird aber häufig Wirkungstrinken betrieben. Ein typisches Beispiel sind Afterwork-Drinks. Wenn man sie genauer hinterfragt, merkt man, dass damit die Spannungen des Tages abgebaut werden sollen.
In Wahrheit haben wir ein Entspannungsproblem?
MICHAEL MUSALEK: Genau. Das ist auch nicht schwer zu verstehen, weil wir uns längst schon von einer Leistungs- zu einer Erfolgsgesellschaft entwickelt haben; Es reicht nicht, Leistung zu erbringen - man muss Erfolg haben. Das sorgt zusätzlich für Druck.
Der Alkohol ist dabei längst kein Männerproblem mehr?
MICHAEL MUSALEK: Bei den Alkoholkranken ist das Verhältnis von Frauen zu Männern noch immer 1 :3,5 , aber Frauen holen stark auf, während die Zahl der Männer leicht rückläufig ist. Bei jugendlichen Problem-Konsumenten liegt das Verhältnis schon bei 1:2. In 20 bis 30 Jahren haben wir also auch bei den Alkoholkranken dieses Verhältnis.
Das Einstiegsalter sinkt?
MICHAEL MUSALEK: Ja, wir sind jetzt bei den 12- bis 13jährigen. Prävention muss in der Volksschule beginnen, in der Oberstufe ist es zu spät.
Das Problem ist das Elternhaus?
MICHAEL MUSALEK: Ja. Kinder machen ja fast nichts, was ihnen die Eltern sagen, aber fast alles, was sie ihnen vorleben. Wenn wir ein Problem mit der Jugend haben, müssen wir bei den Mittelalterlichen ansetzen.
Spielen bei der Alkoholsucht genetische Faktoren eine Rolle?
MICHAEL MUSALEK: Es gibt keinen Typus, der besonders gefährdet wäre. Jeder, der lange genug Alkohol trinkt, kann alkoholkrank werden. Genetisch bedingt ist nur die Alkoholverträglichkeit. Wer Alkohol besser verträgt und merkt, dass er damit soziale Schwierigkeiten oder Schlafstörungen vermeintlich in den Griff bekommt, wird eher trinken. Fatal dabei ist die Toleranzentwicklung: Man verträgt den Alkohol über längere Zeit immer besser und braucht gleichzeitig immer mehr davon, um die gleiche Wirkung zu erzielen.
Wo liegt nun die Grenze zum problematischen Alkoholkonsum bzw. zur Sucht?
MICHAEL MUSALEK: Wir haben ein Kontinuum, das bei moderatem Konsum beginnt und sich langsam steigert. Es gibt keine klar abgrenzbaren Stufen. Dass es Sucht ist, weiß man erst, wenn man längst schon abhängig ist. Folgerichtig kommt auch nur ein Bruchteil der Alkoholiker zum rechten Zeitpunkt in die Behandlung. Zwischen manifestem Krankheitsbeginn und Behandlung liegen im Schnitt sechs bis acht Jahre. Wir führen praktisch immer eine Spätbehandlung durch. Was außerdem nur Wenige wissen: Alkohol wirkt depressionsauslösend und -verstärkend. Vor allem, wenn man ihn regelmäßig und hochdosiert trinkt.
Hinter jedem Alkoholproblem steht eine Angst oder Depression?
MICHAEL MUSALEK: Die Realität ist, dass die Alkohol-Krankheit immer ein desaströses Geschehen ist und praktisch nie alleine daherkommt. Am häufigsten gepaart ist sie mit einer Depression oder Angststörung.
Wie sieht die Therapie aus? Ist ein Entzug nur stationär möglich?
MICHAEL MUSALEK: Nein, 80 Prozent können ambulant behandelt werden. Das Problem dabei ist nur ein finanztechnisches: Die psychologische Hilfe bei der Lebensneugestaltung nach einem Entzug, und ohne Lebensneugestaltung geht es danach nicht, muss man sich im Rahmen einer ambulanten Behandlung selbst bezahlen.
Welchen Rat haben Sie für Angehörige von potenziellen Alkoholikern, die sich Sorgen machen?
MICHAEL MUSALEK: Man kann den anderen nicht ändern, egal mit welcher Methode. Man kann nur versuchen, ihn zu motivieren, Hilfe anzunehmen. Selbst kann man ihm diese Hilfe nicht geben, weil man dabei ganz automatisch viel zu viel falsch macht. Jedes Gespräch, das eine Änderung herbeiführen soll, braucht ein Grundvertrauen, dass man dem anderen nichts Böses antun will. Daran scheitern fast alle diese Gespräche. Und man muss wissen: Über ihren Alkoholismus zu reden ist für die meisten ähnlich schambesetzt wie ein Gespräch über Sexualität.
Was ist das Behandlungsziel bei Alkoholkranken?
MICHAEL MUSALEK: Früher war Abstinenz das einzige Therapieziel. Heute geht es darum, dass jemand möglichst autonom und freudvoll leben kann.
Es gibt immer wieder Empfehlungen mit genauen Mengenangaben zu Alkohol pro Tag, die aus medizinischer Sicht akzeptabel sind.
MICHAEL MUSALEK: Dabei wurde nicht die Sucht evaluiert, sondern die Leberschädigung. Bei der Sucht geht es um das Wirkungstrinken. Alkohol ist ja ein Anästhetikum, also ein Betäubungsmittel, der Genuss ist damit bald vorbei - das muss man wissen und dann sollte man aufhören. Wer außerdem noch mindestens zwei bis drei alkoholfreie Tage pro Woche einhält, ist wohl auf der sicheren Seite. Mehr zu Grenzwerten und Sucht