Die Zunge ist in der Gesellschaft nicht erwünscht – man darf sie nicht zeigen. Warum?

KLAUS DÜRRSCHMID: Es gibt eine antike Geschichte, die das zwiespältige Image der Zunge erstaunlich gut beschreibt. Der Sklave Aesop wird von seinem Besitzer entlassen, wenn er zwei Fragen beantworten kann: Was ist das Schrecklichste und was das Schönste auf der Welt? Er antwortet jeweils: die Zunge. Sie ist ekelhaft und eine Beleidigung, wenn man sie herausstreckt. Aber mit ihr können wir den Göttern huldigen und Gesänge anstimmen. Einerseits ist die Zunge ein Tabu, andererseits erfreuen wir uns täglich an ihr. Was in der antiken Geschichte nicht erwähnt wird, sind all die anderen Funktionen der Zunge.

Die wären?

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Ihr Buch heißt „Zungenbekenntnisse“. Wozu bekennt sie sich?

Sie gibt zu, dass sie nicht allein für den Geschmack verantwortlich ist, sondern nur für die Grundgeschmacksarten und dass viele andere Sinnessysteme zum Geschmack beitragen. Unter anderem die Geruchswahrnehmung – vor allem das retronasale Riechen – die Texturwahrnehmung, das Sehen, das Hören.

Warum können wir schmecken?

Das Schmecken hat sich früh schon in der Evolution als Prüfstelle für die Aufnahme von Nährstoffen entwickelt. Die erste Frage, die das Schmecken beantwortet: Ist das, was wir aufnehmen, als Lebensmittel geeignet? Die zweite ist: Wie viel sollen wir davon essen? Es geht um Entscheidungen bezüglich Qualität und Quantität des Essens.

Unsere Lebensmittel werden heutzutage stark bearbeitet. Verlernen wir das Schmecken?

Also gibt es geborene Feinschmecker?

Man wird als Super- oder Dumpfschmecker geboren. Da kann man nicht viel machen. Im Englischen sagt man Supertaster, Taster, Nontaster. Linda Bartoshuk hat beschrieben, dass Supertaster wie in einer grell erleuchteten Geschmackswelt leben und Dumpfschmecker in einer stark herabgedimmten, in der Geschmack nicht so intensiv ist.

Zu den Farben – man sagt oft: ,Das Auge isst mit.‘ Warum?

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Alles, was wir über die Zunge als Reiz wahrnehmen, entsteht im Gehirn als Wahrnehmung. Dort werden viele andere Dinge gleichzeitig wahrgenommen: Geruch, Geräusche, Aussehen. Und vor allem über das Aussehen werden Erwartungen erzeugt. Wenn das Zuckerl gelb ist, wird es wahrscheinlich nach Zitrone schmecken. Wir haben aufgrund unserer Ernährungsgeschichte viele Erfahrungen mit Lebensmitteln. Diese Erfahrungen sind die Basis für Erwartungen, die unser Gehirn unbewusst bildet. Und das Gehirn schätzt es sehr, wenn es keine Überraschungen gibt. Daher kann es sein, dass wenn der Unterschied zu dem Erwarteten nicht allzu krass ist, die Wahrnehmung in Richtung der Erwartung zurechtgebogen wird.

Zur Kehrseite des Geschmacks – dem Ekel. Wie wird er ausgelöst?

Ekel ist eine emotionale Schutzreaktion gegen Lebensmittel, die Krankheiten verursachen könnten. Manche bezeichnen Ekel als Teil des Verhaltensimmunsystems, jenes Immunsystems, das vorsorglich arbeitet und über das Verhalten handelt.

Verändert sich das Geschmacksempfinden über die Jahre?

Kinder haben eine Süßpräferenz, das verliert sich als Erwachsener, kommt im Alter aber wieder. Kinder schätzen bis zu einem gewissen Alter eine geringere sensorische Komplexität, also keine komplizierten Rezepturen, sondern klar und gut erkennbare Speisen. Stichwort: Spaghetti mit roter Soße. Erwachsene mögen aber durchaus komplexere sensorische Profile.

Kann ein Fleischtiger zum zufriedenen Vegetarier werden?

Es gibt Phasen, in denen man solche Präferenzen auflösen kann. Ich liebe Fleisch, aber als vor einigen Jahren mein Vater gestorben ist, war es mir in dieser Zeit leicht möglich, fleischlos zu essen. Ich habe mich dann zwei Jahre vegetarisch ernährt. Es sind einschneidende persönliche Erlebnisse, die so eine Verhaltensänderung ermöglichen können. Bei Frauen können das Schwangerschaften sein. Aber eine ausgeprägte Fleischpräferenz dauerhaft aufzulösen, ist schwer.