Warum brauchen wir künstliche Intelligenz (KI) in der Medizin?
Bart De Witte: Weil wir bessere Entscheidungen brauchen! Die Medizin wird immer komplexer, das Wissen explodiert, der Arzt ist in seinen Möglichkeiten eingeschränkt. Dazu kommt, dass menschliche Entscheidungen durch viele unbewusste Faktoren beeinflusst werden. Es werden viele Fehlentscheidungen getroffen, da ein Arzt sich zu 80 Prozent auf seine Intuition verlässt. Wir sind auch nicht in der Lage, das gesamte Wissen der Medizin in die Praxis zu bringen – für komplexe Erkrankungen braucht es Spezialzentren. Denken Sie an den ländlichen Raum, mit KI könnten wir jede Hausarztpraxis zum Spezialzentrum machen. Und das gilt auch für Entwicklungsländer, die keinen Zugang zum besten medizinischen Wissen haben.
Viele träumen von der Zusammenarbeit von Arzt und Supercomputer – wie kann diese in der Praxis aussehen?
Ich nenne es das Zentauren-Modell: Mensch und Pferd sind gemeinsam stärker als der Mensch oder das Pferd allein. Das Ziel für die Praxis muss sein, dass die KI dem Arzt die Zeit gibt, sich wieder intensiver mit dem Patienten zu beschäftigen. Die Mensch-zu-Mensch-Beziehung ist unter Druck geraten, die Zeit mit dem Arzt beschränkt sich auf wenige Minuten. Wenn die Technologie unsichtbar im Hintergrund unterstützend läuft, kommen wir wieder in die holistische Beziehung. Das gilt auch für das Pflegepersonal: Krankenschwestern sind nur zu 30 Prozent ihrer Arbeitszeit am Patienten, die restliche Zeit sind sie am Dokumentieren – wenn wir die Technologie so einsetzen, dass wir Bürokratie automatisieren, kommt das Patienten zugute.
Künstliche Intelligenz könnte also die Beziehung zwischen Arzt und Patient verändern?
Absolut. Die KI wird aber auch den Patienten verändern und ihn zum Superpatienten machen: Heute haben wir Fieberthermometer, Blutdruckmessgerät – doch diese Palette wird noch viel breiter werden. Gerade erst ist ein intelligentes Stethoskop auf den Markt gekommen, das den Gesundheitszustand von Kindern bei einem Infekt analysiert. Solche Geräte können den Patienten ermächtigen.
Aber sind Patienten fit für so eine Ermächtigung?
60 Prozent der Weltbevölkerung gehören zu den Millennials und den Generationen danach – weltweit gesehen ist die Mehrheit der Bevölkerung bereits mit dem Internet aufgewachsen. Diese Menschen kommen ja mit den analogen Abläufen – Bürokratie, Wartezeiten – nicht mehr klar. Und die Lösungen sind so aufgebaut, dass sie sehr intuitiv und einfach sind.
Wie gut sind Supercomputer wie Watson von IBM heute schon?
Solche Supercomputer sind wichtig für die Entwicklung der KI: Da wir immer komplexere Datenstrukturen analysieren müssen, braucht es hier immer bessere Systeme. Für die Anwendung aber brauchen wir sie gar nicht mehr. Denn: Mittlerweile können Anwendungen mit künstlicher Intelligenz auf jedem besseren Smartphone laufen. Nur die Forschung braucht Rechenleistung, um einen Algorithmus zu entwickeln.
Momentan geht es bei medizinischen Anwendungen von KI vor allem um die korrekte Diagnose: Hautkrebs erkennen Maschinen bereits besser als Dermatologen. Doch wird uns KI auch dabei helfen zu verhindern, dass wir überhaupt krank werden?
Weil wir immer mehr Rechenleistung bekommen, werden wir in Zukunft simulieren können, was für Abläufe in Zellen zur Entstehung von Krankheiten führen. Dadurch werden wir verstehen, wie der Körper als System funktioniert. So können wir frühzeitig Prozesse im Körper erkennen, die zehn Jahre später zu Krebs führen.
Nun werden diese Entwicklungen von einzelnen Firmen vorangetrieben, die natürlich gewinnorientiert arbeiten. Welche ethischen Bedenken entstehen dadurch?
Wir müssen sehr aufpassen, dass diese Entwicklungen jedem Menschen zur Verfügung stehen. Ich habe eine Non-Profit-Organisation gegründet, unser Ziel ist, alle Entwicklungen rund um KI in der Medizin öffentlich zugänglich zu machen. Die trainierten KI-Modelle können von allen genützt werden. Wir machen sie zu einem öffentlichen Gut. Stellen Sie sich vor, es entsteht ein Monopol darauf, die beste Diagnose zu bekommen – eine einzelne Organisation hat das ganze Wissen exklusiv. Aber auch in den Händen einer Regierung wird solches Wissen immer zuerst den politischen Interessen dienen. Wir müssen den Eid des Hippokrates, der den Arzt verpflichtet, sein Wissen zu teilen, auf die digitale Medizin umlegen.
Wie stellen wir sicher, dass wir unter Kontrolle haben, was Algorithmen entscheiden?
Bevor ein Medikament auf den Markt kommt, muss die Wirkung in Studien bewiesen werden. Ein ähnliches System braucht es für Algorithmen: Studien müssen zeigen, dass Algorithmen funktionieren.