Herr Markram, im Buch „Der Junge, der zu viel fühlte“ wird eindrücklich Ihre Vater-Sohn-Geschichte beschrieben, die das Verständnis von Autismus völlig verändern sollte. Wie haben Sie bemerkt, dass Ihr Sohn Kai anders ist?
Henry Markram: Schon kurz nach der Geburt dachten wir, irgendwas ist anders als bei seinen beiden älteren Schwestern. Er hatte diese großen Augen, diesen Blick. Die waren immer in Bewegung, fast wie im Alarmbetrieb. Wir haben uns Sorgen gemacht, aber die Ärzte sagten, alles sei in Ordnung. Da habe ich mich darüber sogar gefreut, habe zu meiner Frau gesagt: ,Er ist eben ein waches Kind, er will die Welt kennenlernen.‘ Als er aber sehr spät anfing zu sprechen und unter innerer Unruhe litt, machten wir uns wieder Sorgen. Wir waren wie alle anderen Eltern auch, reisten von Arzt zu Arzt. Die Ärzte diagnostizierten schließlich ADHS – das wird oft anfangs mit Autismus verwechselt.

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Bis zur Diagnose Autismus dauerte es – war es eine Erlösung oder eine zusätzliche Belastung, als feststand, was mit Kai los ist?

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Es war erst einmal eine Befreiung, Kai war schon knapp sechs Jahre alt. Viele Eltern werden das kennen: Wenn du endlich weißt, was es ist, nimmt es dir eine Last. Du denkst: Nun wissen wir Bescheid, nun kannst du etwas tun. Aber das Gefühl hielt nicht lange, ich war ja selbst Arzt und Hirnforscher, da kamen die Sorgen noch größer zurück. Die Leute meinen ja, als Hirnforscher kannst du deinem Kind mehr helfen – doch das ist falsch! Ich fühlte mich ohnmächtiger. Nach den ersten Recherchen wusste ich, wie wenig wir über Autismus tatsächlich wissen. Ich hatte ein Jahr freigenommen, nur um in Kliniken neuen Methoden nachzuspüren. Aber da gab es nichts. Nur die alten Aussagen: Autisten haben ein Defizit im Gehirn. Ihnen mangelt es an Empathie und Interesse an sozialem Kontakt. Dagegen tun könne man wenig. Das überzeugte mich überhaupt nicht. Ich misstraute auch der Art, wie autistische Kinder behandelt wurden: Dass man ihnen in Verhaltenstherapien ihre Rituale wegnahm, mit denen sie sich gerne beruhigen. Und in der Medizin gab es mehr als 600 Patente für Medikamente: Sie alle sollten das Gehirn anregen. Aus meiner heutigen Sicht: komplett falsch.

Was läuft im Gehirn von Autisten anders?

Das Gehirn ist anfangs nicht eingeschränkt, es ist zu leistungsfähig. Es ist übermäßig vernetzt und speichert zu viele Informationen. Autisten erleben die Welt als feindselig und schmerzhaft intensiv. Alles ist zu laut, zu bunt, zu hell. Gerade bei Babys und Kleinkindern ist das verheerend. Sie sind von Natur aus darauf programmiert, Reize zu suchen, die Welt aufzusaugen. Es ist lebenswichtig. Aber weil sie von Informationen und Eindrücken dauerhaft überwältigt werden, geraten Hirnareale außer Kontrolle. Überflutet von Reizen kann der Autist die Welt nur noch in Ausschnitten wahrnehmen. Diese Ausschnitte verfolgt er mit übergroßer Aufmerksamkeit und beängstigendem Erinnerungsvermögen. Dies führt zu Inselbegabungen, aber auch zu Rückzug und Verhaltensroutinen. Autisten haben also kein Defizit, sie spüren nicht zu wenig, sondern zu viel. Der Rückzug ist nicht die Störung – er ist die Reaktion. Das lenkte die Forschung in die falsche Richtung.

Basierend auf Ihren Erkenntnissen: Wie sollten Menschen mit Autismus behandelt werden?

Ein autistisches Kind sollte in einer gefilterten Welt aufwachsen: So viel Input, wie es ohne Stresssymptome verträgt, aber die Eindrücke dämpfen, und die Umwelt so strukturiert wie möglich gestalten. Also keinen Computer, kein Fernsehen, keine Knallfarben im Kinderzimmer, und vor allem: keine Überraschungen. Gelingt dies in den ersten sechs Lebensjahren, ist die größte Gefahr gebannt: dass Teile des Gehirns in eine dauerhafte Überreaktion versetzt werden. Es ist wichtig, das Gehirn zu beruhigen und die Welt vorhersehbar zu machen. Das gilt auch für erwachsene Autisten. Ihre Ängste und ihr Rückzug lassen sich mildern oder umkehren. Es gibt diese Geschichte, die verfilmt wurde: „Life, Animated“. Ein autistisches Kind, Owen, schaute immer Disney-Filme – ein Ritual, das früher verboten wurde. Der Vater ließ seinen Sohn aber gewähren und stellte fest, dass er mit dem Sohn reden kann, wenn er sich als Disney-Figur ausgibt. Er ließ dem Kind also sein Ritual, die das Gehirn beruhigt, und bewegte sich in die Welt des Kindes. Langsam öffnete sich der Sohn und bewegte sich aus seiner Disney-Blase. Das ist die vielleicht wichtigste Botschaft: Wir müssen auf Betroffene zugehen, einfühlsam sein. Die Leute sagten, Autisten fehle es an Empathie; nein, es ist umgekehrt, uns fehlt Empathie für Autisten.

Sie haben das „Human Brain Project“ gestartet: eine Initiative, die das Gehirn vollständig entschlüsseln und simulieren will. Wie maßgeblich war Ihr Sohn Kai für dieses Projekt?

Das Human Brain Project hätte es auch ohne Kai gegeben. Ich bin Hirnforscher, jeder Wissenschaftler will Rätsel lösen. Unser Gehirn ist das größte Rätsel der Menschheit. Die einzige Chance, es in meinem Leben noch zu verstehen, ist, die neuen Techniken zu nutzen, künstliche Intelligenz und Supercomputer. Und erst wenn wir es verstehen, werden wir in der Lage sein, Alzheimer, Parkinson oder Autismus zu entschlüsseln und die Symptome zu behandeln. Kai hat aber natürlich eine Rolle gespielt: Mit einem Kind, das deine Hilfe braucht, ist Forschung mehr als nur Arbeit. Es wird zu einer sehr persönlichen Sache. Ich will, dass Kai noch von den Erkenntnissen unserer Arbeit und Hirnsimulationen profitieren kann. Andere Forscher haben Zeit. Ich habe keine Zeit, ich habe ein Kind, das zwar nicht geheilt werden muss, aber das als Folge dieser Wesensart Ängste hat, Traumata erfährt. Wir können sie jetzt schon lindern, aber ich will ihm weiter helfen.

Autismus wird als Entwicklungsstörung definiert, andere sagen, manche Autismus-Formen könnten eine nächste Evolutionsstufe sein. Wo ordnen Sie Autismus ein?

Nur wenige sind solche Supergehirne, wie wir es aus dem Film „Rain Man“ kennen, auch Kai, er ist heute 24, war nie ein Wunderkind. Wir halten nichts davon, Autisten in ein Leistungsdenken einzugliedern. Allerdings sind Autisten tatsächlich anders und haben einzigartige Stärken. Nicht wenige Erfinder und Unternehmer in der Digitalisierung haben autistische Züge. Davon profitieren wir als Gesellschaft. Die Menschheit hat sich immer weiterentwickelt durch Menschen, die anders sind. Vielleicht sind Autisten die Pioniere unserer digitalisierten Zeit.

Was ist Ihr Rat 1. als Vater und 2. als Hirnforscher an Eltern von autistischen Kindern?

Als Hirnforscher: die Regeln im Kopf zu behalten, die wir besprochen haben. Als Eltern: Seien Sie einfühlsam. Wenn Ihr Kind weint und schreit und sich verweigert, ist das keine Bockigkeit. Es ist Schmerz und Angst. Eine einfache Dusche kann sich für sie anfühlen wie Tausend heiße Nadeln. Und: Geben Sie nie auf. Uns haben die Ärzte am Anfang gesagt, dass keine Hilfe möglich ist. Wir haben zum Glück nicht darauf gehört.