Die fast vollständige Ausrottung der Krankheit Polio ist eine der größten Erfolgsgeschichten der Neuzeit. Vor weniger als 20 Jahren waren weltweit noch 350.000 Kinder daran erkrankt - 2016 wurden bisher nur 27 Fälle von Kinderlähmung (Poliomyelitis) gezählt. Nach dem Willen der internationalen Gemeinschaft sollte es schon ab 2017 keine neuen Fälle mehr geben.
Zuletzt traten nur noch in Afghanistan und Pakistan Neuerkrankungen auf. Aber kurz vor dem Ziel haben islamistische Terroristen in Nigeria der Initiative noch einmal einen Rückschlag verpasst. Afrika galt seit fast zwei Jahren als Polio-frei. Doch in Gebieten im Nordosten von Nigeria, die bis vor kurzem noch unter der Kontrolle der Terrormiliz Boko Haram standen, sind seit August vier neue Fälle diagnostiziert worden.
Zehn Millionen Kinder geimpft
Seither haben die WHO und ihre örtlichen Partner im betroffenen nigerianischen Bundesstaat Borno und den angrenzenden Gebieten schon bis zu zehn Millionen Kinder geimpft. In der nächsten Phase sollen in Nigeria und den Nachbarstaaten Tschad, Niger und Kamerun bis zu 41 Millionen Kinder geimpft werden. Von den dazu nötigen 116 Millionen Dollar (105,65 Mio. Euro) fehlen den Helfern allerdings noch 33 Millionen.
Wenn das Virus in nur einigen Regionen fortbestehe, könne das schon innerhalb von zehn Jahren zu 200.000 Neuerkrankungen führen.
In Europa ist Polio für die meisten Menschen eine Krankheit aus dem Geschichtsbuch. Viele wollen ihre Kinder nicht mehr schützen lassen. "Das ist mehr ein emotionales Thema als ein medizinisches", sagte Sona Bari, eine Sprecherin der Globalen Initiative zur Ausrottung von Polio.
In Indien etwa, wo Polio erst seit 2011 Geschichte ist, sei die Lage komplett anders. "Eltern dort haben die Folgen der Krankheit noch selbst gesehen, sie können sich nicht vorstellen, wie jemand darauf verzichten könnte, sein Kind dagegen zu schützen", berichtete Bari.
Die große Schwierigkeit in Nigeria ist, dass dort Hunderttausende immer noch in Gebieten leben, die von Boko Haram kontrolliert werden oder die für Helfer zu gefährlich sind. Unter der Kontrolle der sunnitischen Fundamentalisten war auch die Gesundheitsversorgung zusammengebrochen.
Rund 4,4 Millionen Menschen sind dort den Vereinten Nationen zufolge akut von Hunger bedroht, in Teilen der Region sprechen Helfer gar von einer Hungersnot. "Das Immunsystem der Kinder in der Region ist so geschwächt, dass sie extrem anfällig sind", sagte Bari. "Wir müssen die Region mit Impfstoff fluten."
Impfkampagnen angegriffen
Auch in Pakistan war die Sicherheitslage lange das größte Hindernis für die Ausrottung von Polio. Dort ist die Zahl der Neuinfektionen zuletzt allerdings dramatisch gesunken - von 306 Fällen in 2014 auf 54 in 2015, berichtete die Chefin von Pakistans nationaler Anti-Polio-Initiative, Ayesha Raza Farooq. Das sei die geringste Zahl seit 2007 gewesen. Bis Mitte Oktober 2016 waren es nur weitere 15.
Islamisten hatten jahrelang vor allem in den nordwestlichen Stammesgebieten Impfkampagnen angegriffen. Sie glauben, die Impfungen seien ein Mittel zur Sterilisierung von Muslimen oder ein Vorwand, um Spione des Westens in ihre Mitte zu bringen. Doch begann das Militär, gegen Islamisten vorzugehen. Dann hatte Gesundheitspersonal Zugang zu Orten, in denen nie zuvor ein Kind geimpft worden war.
Gefechte mit Taliban
In Afghanistan geht der Trend in die andere Richtung: Der Krieg mit den radikalislamischen Taliban weitet sich wieder aus. Das bereitet den Experten Sorgen. Bisher seien in 2016 acht Polio-Fälle festgestellt worden, sagte der Leiter der nationalen Anti-Polio-Initiative, Nadschibullah Safi. Im gesamten vergangenen Jahr waren es 20. Allerdings sind weite Teile des Landes wegen Gefechten mit den Taliban von medizinischer Versorgung abgeschnitten.
In der umkämpften Nordprovinz Kundus gab es demnach seit sechs Monaten keine Impfkampagne mehr. In der Provinz Badachschan meldeten Spezialisten, dass sie keinen Zugang zu Gebieten in Taliban-Hand hatten und mehr als 2.000 Kinder nicht impfen konnten.
Von Jürgen Bätz und Christine-Felice Röhrs/dpa