Herr Arvay, wir haben uns hier im Leechwald in Graz getroffen und spazieren durch die Blätterlandschaft: Warum tun wir uns damit etwas Gutes?
CLEMENS ARVAY: Wir Menschen sind Naturwesen. In einem Millionen Jahre langen Evolutionsprozess sind wir aus der Natur hervorgegangen. Die logische Konsequenz ist, dass wir in einem Funktionskreislauf mit der Natur stehen. Wir sind angepasst an die Natur und wir sind auf unsere natürlichen Lebensräume angewiesen – auch wenn diese immer mehr zerstört werden.
Ihr aktuelles Buch heißt „Der Heilungscode der Natur“. Wie kann der Kontakt zur Natur heilend sein?
ARVAY: Das kann man zum Beispiel daran sehen, dass Substanzen im Wald, die wir einatmen, eine pharmazeutische Wirkung auf uns haben. Die Mensch-Natur-Medizin ist keine, wo Natursubstanzen in Form von Arzneistoffen eingenommen werden, sondern eine, die dadurch wirkt, dass wir in der Natur sind. Es geht um den Aufenthalt in der Natur. Ohne etwas zu schlucken oder uns einzucremen wirkt die Natur heilend auf uns.
Wie macht die Natur oder im Speziellen der Wald das?
ARVAY: Der Wald ist ein riesiger kommunizierender Organismus, Pflanzen tauschen Botschaften aus, um sich über Angreifer wie Insekten zu informieren. Diese Kommunikation passiert über chemische Substanzen, sogenannte Terpene. Im Prinzip sind das Duftmoleküle, die wir teilweise auch riechen können.
Das bedeutet, wir sind gerade umgeben von diesen Terpenen?
ARVAY: Genau, hier im Wald ist alles voll mit diesen bioaktiven Substanzen.
Was tun diese Stoffe mit uns?
ARVAY: Man hat in zahlreichen wissenschaftlichen Studien gesehen, dass das Einatmen dieser Terpene positiv auf unser Immunsystem wirkt. Die Anzahl der natürlichen Killerzellen im Blut steigt. Diese Zellen sind dafür verantwortlich, Viren, aber auch Frühformen von Krebszellen in unserem Körper zu zerstören. Auch die drei wichtigsten Krebsproteine werden gestärkt. Diese werden benötigt, um bereits bestehende Tumore zu eliminieren. Somit ist Waldluft ein umfassendes Doping für unser Immunsystem.
Aber wie stark kann dieses Doping wirken – gerade im Fall von Krebs?
ARVAY: Es geht natürlich nicht darum, Chemotherapie zu ersetzen und zu sagen, geh nicht zum Arzt, geh nur in den Wald. Das ist es nicht! Es geht darum, den Körper auf allen möglichen Wegen zu unterstützen. Der Kontakt zur Natur kann den Körper im Krankheitsfall unterstützen, aber vor allem kann er Krankheiten vorbeugen. Das wurde durch Studien bewiesen.
Sie beschreiben Studien, die gezeigt haben, dass Menschen umso gesünder sind, je mehr Bäume in ihrem Viertel stehen. Nun könnte man argumentieren, dass mehr Grün auch zu Bewegung anregt und die Menschen deshalb gesünder sind.
ARVAY: Die Mensch-Natur-Medizin ist immer eine ganzheitliche: Ich kann mich nicht jeden Tag ungesund ernähren, dann in den Wald gehen und glauben, ich bleibe deshalb gesund. Es ist ein Gesamtpaket. Prinzipiell aber gilt: Die Trennung von der Natur macht uns krank.
Bäume haben auch einen psychologischen Effekt auf uns, beschreiben Sie. Wie funktioniert das?
ARVAY: Das funktioniert über den Parasympathikus, ein Nervennetzwerk, das unseren ganzen Körper durchzieht und der als Nerv der Ruhe gilt. Bäume aktivieren den Parasympathikus. Das führt dazu, dass weniger Stresshormone ausgeschüttet werden und das Immunsystem wieder besser arbeitet, das ja unter Stress heruntergefahren wird. Auch die Verdauung funktioniert besser, mehr Insulin wird produziert – es passieren viele Dinge, die Heilung fördern, im Gegensatz zur Stresssituation.
Der Wald wirkt also gegen Stress, er stärkt das Immunsystem und schützt auch das Herz: Sollte es Waldluft dann nicht auf Rezept geben?
ARVAY: Durch die Technisierung und Industrialisierung haben wir die Illusion bekommen, dass wir unabhängig von der Natur seien. Wir glauben, wir beherrschen mit unserer Technologie und Pharmazie alles, aber so ist es nicht. Wir sind nach wie vor in die Natur eingebettet, und wenn wir uns von ihr entfernen, werden wir krank. Es sollte zumindest keine Krankenhäuser mitten in der Stadt geben, sondern Pavillonkrankenhäuser wie früher, wo aus jedem Fenster Grün zu sehen ist.
Die Dosis macht die Medizin: Wie viel Wald brauchen wir?
ARVAY: Es gibt nicht zu viel Wald, und schon ein ausgedehnter Waldspaziergang wirkt. Um das Immunsystem dauerhaft zu stärken, sollte man zwei bis drei volle Tage pro Monat in einem Waldgebiet verbringen. Selbst wenn man in einer Großstadt lebt, haben schon Grünflächen mit einzelnen Bäumen eine positive Wirkung. Ich persönlich bin jeden Tag im Wald.
Sonja Saurugger