Die Frau weiß, dass sie sich eigentlich freuen sollte. Doch die Mitarbeiterin einer Werbeagentur freut sich nicht, sondern hat einfach nur Angst. Sie soll zum ersten Mal eine Kampagne vor Kunden präsentieren - ihr Chef traut ihr das zu. Sie selbst sieht sich schon mit knallrotem Kopf vor den Kunden stehen. "Diese Vorstellung ist mein Albtraum", erzählt die 30-Jährige, die an Erythrophobie leidet - der Angst vor dem Erröten.
Seit ihrer Teenie-Zeit wird sie häufig rot, sogar bei ihrer Ansicht nach nichtigen Anlässen: wenn jemand sie nach ihrer Meinung fragt. Wenn sie bei Familienfeiern etwas sagt, und alle hören zu. Wenn ein Mann sie einfach nur anlächelt. "Genau genommen ist nicht das Erröten das Problem, sondern die Bewertung des Errötens", sagt die Psychotherapeutin Doris Wolf aus Mannheim. "Für die betroffenen Menschen ist es etwas Peinliches, Demütigendes oder Beschämendes."
Die Angst vor dem Erröten beginnt meist schleichend im jugendlichen Alter und trifft nach Einschätzung von Christa Roth-Sackenheim vor allem unsichere Menschen. Es sind mehr Frauen als Männer, die Gründe dafür sind unbekannt. "Vielleicht liegt es daran, dass sich Frauen in ihrem Verhalten generell mehr daran orientieren, was sozial erwünscht ist", schätzt die Vorsitzende des Berufsverbands Deutscher Psychiater (BVDP).
Kreislauf der Angst
Am Anfang stehen stets unangenehme Erlebnisse: Der Betroffene wird rot, schämt sich, hat vielleicht noch ein Black-Out und wünscht sich nichts sehnlicher als ein Loch im Boden, in das er verschwinden kann. Gefährlich wird es, wenn er beginnt, vergleichbare Situationen zu vermeiden, seinen Körper zu intensiv zu beobachten und in einen Kreislauf der Angst zu geraten. "Dann verfestigt sich - wie bei jeder Phobie - die Angst", erklärt der Psychotherapeut Michael Schellberg aus Hamburg.
Die Mitarbeiterin der Werbeagentur überlegt ernsthaft, sich an dem besagten Tag krankzumelden. "Ich werde mit knallrotem Kopf da stehen. Alle werden innerlich über mich lachen. Die ganze Agentur wird davon erfahren, und ich werde für immer das Gespött der Leute sein", fürchtet sie. Wer rot wird, kann sich nicht mehr hinter einer coolen Fassade verstecken. Er zeigt seine Unsicherheit. Angst bereitet Betroffenen auch der Kontrollverlust: Mein Körper tut etwas, und ich kann nichts dagegen machen!
Gemein ist allen Phobien die Erwartungsangst, also die Angst, dass "es" wieder passiert. Schellberg empfiehlt, zu einem Therapeuten zu gehen, wenn die Angst vor dem Erröten das Leben einschränkt. Er beobachtet, dass Betroffene von ihren Mitmenschen häufig nicht ernst genommen werden, nach dem Motto "Aber das ist doch niedlich". "Die meisten Leute warten viel zu lange, bis sie zum Therapeuten gehen. Aber wenn eine Angststörung früh behandelt wird, verschwindet sie schnell wieder." Grundsätzlich rät er Menschen mit Erythrophobie das, was er allen Phobikern empfiehlt: das Erlernen von Entspannungstechniken wie Meditation sowie das Allheilmittel Sport.
Hochrot für drei Minuten
Nach Meinung der Experten ist es zentral, die Situation nicht dramatischer darzustellen, als sie tatsächlich ist. Ein Trost: Der Kopf bleibt nicht stundenlang rot, sondern maximal für zehn Minuten. Meistens hat sich die Sache schon nach höchstens fünf Minuten erledigt. Außerdem nehmen viele Menschen etwas Röte im Gesicht des anderen kaum wahr. Bemerken sie es doch, gibt es bei manchen sogar einen Extra-Sympathiepunkt. "Erröten wirkt authentisch und unverstellt. Außerdem kennen es viele von sich selbst", sagt Roth.
Es gibt einige Tipps, um die Lage im Ernstfall nicht schlimmer zu machen. Was gar nicht hilft, ist der noch so feste Vorsatz: nur nicht rot werden. "Damit erreichen Sie genau das Gegenteil", sagt die Psychotherapeutin Wolf, die zu dem Thema ein Buch geschrieben hat. Sie empfiehlt, dem Körper anderweitig "Entwarnung" zu geben. Zum Beispiel mit Atemtechniken oder progressiver Muskelentspannung. Hilfreich ist es, tief und ruhig zu atmen. Man kann sich selbst Sätze sagen wie "Ich atme ruhig" oder "Ich bin sicher". Manchen hilft es auch, sich anderen Menschen mit Sätzen wie "Das ist mir jetzt aber peinlich" mitzuteilen.