Das unterschiedliche Verlangen nach Sex kann Menschen viele Beschämungen und negative Folgen für die Psyche einbringen. Oft werde hier ein Leidensdruck von außen getriggert – und es spielt eine gesellschaftliche Doppelmoral hinein, wie die Soziologin Barbara Rothmüller in einer Studie aufzeigt. Negative Erfahrungen im Bekanntenkreis oder mit Partnern können Menschen glauben machen, dass an ihrer Sexualität etwas nicht in Ordnung ist oder sie gar an einer Erkrankung leiden.

Es sei im negativen Sinne erstaunlich, wie hartnäckig sich längst überholte Attribute wie „frigide“ – als Ausdruck für fehlende Lust – oder „pervers“ – für sexuell aktiv bzw. überaktiv – prominent in der Gesellschaft halten. Das Ausmaß an sexueller Lust und noch viel mehr die Einschätzung davon, was hier als „normal“ anzusehen ist, ist ein meist nicht offen diskutiertes gesellschaftliches Thema, zu dem es noch erstaunlich wenig Forschung gebe, erklärte die Soziologin und Sexualpädagogin, die an der Sigmund-Freud-Privatuniversität (SFU) forscht und an der Universität Wien unterrichtet.

Sexualität: Unterschiede bei Frau und Mann

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Die „Störung des sexuellen Verlangens“ umfasst die Problematik im psychologisch-medizinischen Sinne. Sie wird selbst im Jahr 2024 erstaunlicherweise noch für Frauen und Männer anders umrissen. Das liegt laut der Forscherin darin begründet, dass die männliche und weibliche Sexualität oft immer noch als anders strukturiert angesehen wird: Frauen werden als eher auf Reize reagierend betrachtet, während man Männern eher eine „eigenständige, aktive Sexualität und ein Recht auf sexuelle Lust“ zuschreibe, so Rothmüller, die schon lange zu sexueller Gesundheit, aber auch zu Diskriminierung forscht. Diese Sichtweisen seien in vielen Teilen der Gesellschaft, aber auch unter Sexualtherapeutinnen und -therapeuten und in manchen Bereichen in der Wissenschaft noch weit verbreitet.

Und sie lassen sich in den Studiendaten finden: Insgesamt sehe man, dass „doch deutliche Ausgrenzungsdynamiken zum Tragen kommen“, und dass solche Erfahrungen „gar nicht so wenige Menschen machen“. In der Psychologie werde allerdings der soziale Druck von außen wenig in Diagnose und Therapie in den Blick genommen - man konzentriere sich sehr auf den einzelnen Menschen und dessen persönlichen Leidensdruck. Letzterer komme hier aber oft aus dem sozialen Umfeld der Betroffenen: Während eine Person selbst ihr sexuelles Verlangen als „total in Ordnung empfindet“, kann das die Gesellschaft oder der Partner ganz anders sehen. So würden Menschen auch in Richtung einer Störung gedrängt - Wissenschafter sprechen von einer Pathologisierung.

Wegen lustvoller Sexualität als „Schlampe“ bezeichnet

Frauen seien etwa oft mit dem sogenannten „slut shaming“ konfrontiert, wenn sie aufgrund einer aktiv gelebten, lustvollen Sexualität gewissermaßen als „Schlampen“ bezeichnet werden. „Das ist sehr geschlechtsspezifisch und wird so bei Männern nicht formuliert“, so Rothmüller: „Die sexuelle Doppelmoral findet man in Österreich noch ganz stark - auch bei jüngeren Generationen und obwohl unverbindliche sexuelle Erfahrungen großteils enttabuisiert sind. Trotzdem kann man das noch nutzen, um vor allem Frauen zu beschämen.“

Auch Vertreter sexueller Minderheiten würden insgesamt sehr viel häufiger sowohl für zu wenig als auch für zu viel sexuelle Lust angegriffen, als das bei heterosexuellen Befragten der Fall ist. Das habe vielfach historische Gründe und finde heutzutage eine Reinkarnation etwa in Form von Mobbing auf „Social Media“-Plattformen. Noch dazu würden sexuelle Minderheiten bei einschlägigen Problemen in Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen oft weniger ernst genommen, erklärte Rothmüller.

Alles in allem sehe man in der Studie, für die Menschen zwischen 14 und 75 Jahren befragt wurden, dass in jüngeren Generationen schon selbstverständlicher und mit einem weiteren Personenkreis über Sexualität gesprochen wird als das noch in deren Großelterngeneration der Fall war. Das bringe aber auch neue Vehikel für sozialen Druck, wie eben diverse Möglichkeiten, Beschämungen online zu teilen, mit sich, erklärte Rothmüller: „Da hat sich vielleicht nur der Modus der Ausgrenzung geändert.“ Die in manchen Teilen der Bevölkerung nun gelebte neue Offenheit breche zwar mit Tabus, fördere aber auch sexuellen Druck: Wenn man etwa das Gefühl bekommt, sexuell auf eine Art „performen zu müssen, die manche Menschen eigentlich gar nicht möchten“.

Rothmüller plädiert angesichts der Ergebnisse für eine kritischere Haltung gegenüber vermeintlichen Normen: „Man sollte erkennen, dass es nicht nur eine Art gibt, wie man ein gutes, gesundes Sexleben führen kann.“ Geht es um Diagnosen zu Sexualstörungen, sollten Psychologen oder Psychiater die Rolle des Umfelds und Ausgrenzungserfahrungen als mögliche Ursachen für erlebten Leidensdruck stärker einbeziehen, meint die Soziologin.