Surreal. Das ist das Wort, mit dem Lisa Doppler dieses eine Jahr beschreibt, in dem ihr Leben auf Pause geschaltet war. In dem sich alles um ihre Krebserkrankung drehte, die so selten ist, dass selbst Onkologen zunächst nicht wussten, womit sie es zu tun haben. Auf den Fotos aus dieser Zeit erkennt sie sich selbst nicht: mit der großen Narbe quer über den Kopf, die sich von einem Ohr zum anderen zieht; mit dem aufgedunsenen Gesicht und der Glatze während der Chemotherapie, die äußerst aggressiv war, um ihrem aggressiven Tumor Paroli zu bieten.
Wenn man Lisa Doppler heute trifft, sieht man vor allem ein strahlendes Lächeln. Nichts lässt erahnen, dass ein Titangitter einen Teil ihres Schädelknochens ersetzt hat und sie zwölf Schrauben im Kopf hat; dass sie 40 Bestrahlungen und neun Zyklen Chemotherapie durchgestanden hat; dass sie an einer Krebserkrankung litt, bei der die mittlere Überlebenszeit ab Diagnose in Monaten gemessen wird, nicht in Jahren. „Die alte Lisa und mein altes Leben, das gibt es nicht mehr“, wird Doppler später im Gespräch sagen. Aber heute, da baut sie sich ein neues Leben zusammen, Stück für Stück und Schritt für Schritt.
Dabei war da am Anfang, im Sommer 2022, nicht mehr als ein Pickel auf Lisa Dopplers Stirn. Zumindest dachte sie das, als sie die Ein-Cent-Münzen große Erhebung zwischen ihren Augenbrauen entdeckte. Zu der Zeit trieb die Steirerin viel Sport, trainierte für den Grazer Halbmarathon, fühlte sich fit. Doch dann begann der Knubbel auf der Stirn zu pochen und Lisa Doppler zeigte ihn ihrem Hausarzt. Nach einer Computertomografie war klar, dass es sich um keinen Pickel handelt, sondern dass da etwas in Dopplers Stirn wächst, das bereits bis zum Schädelknochen vorgedrungen war.
Zum ersten Mal fällt das Wort Tumor, doch die Ärzte beruhigen: Es sei wohl eine gutartige Geschwulst, die man operativ entfernen werde. Aus dem Knubbel war inzwischen eine Beule geworden und Lisa Doppler litt unter starken Schmerzen, da der Tumor bereits bis zu ihrer Hirnhaut gewachsen war. Trotzdem war Lisa Doppler vor der großen Operation am Kopf im Glauben: „Das Gewächs wird entfernt, danach gehe ich nach Hause und es ist erledigt.“ Doch einige Tage nach dem Eingriff änderte sich alles und die heute 30-Jährige musste sich die Frage stellen: „Werde ich das überleben?“
Und plötzlich die Frage: „Überlebe ich das?“
Als Doppler am 28. Dezember 2022 zur Nahtentfernung zu ihrem behandelnden Arzt kommt, erfährt sie, dass es sich bei der Geschwulst nicht um ein gutartiges Gewächs, sondern um ein sogenanntes NUT-Karzinom handelt: Eine äußerst seltene und sehr aggressive Tumorart, die aus einer fehlerhaften Kombination zweier Gene entsteht. Diese Tumore treten typischerweise entlang der Mittellinie des Körpers auf, vor allem im Kopf, Hals und der Lunge. „Zu lesen, dass die Prognose äußerst schlecht ist und es keinen etablierten Therapieplan gibt, war niederschmetternd“, erinnert sich Doppler.
In dem Moment war sie „in Schockstarre“: „Ich wusste nicht, was jetzt auf mich zukommt.“ Mit ihrem Behandlungsteam an der Onkologie am LKH Graz entscheidet sich Doppler für einen aggressiven Therapieplan: 40 Mal wird ihr Kopf und Hals bestrahlt, währenddessen liegt sie unter einer eigens angefertigten Plastikmaske, die ihren Kopf millimetergenau in Position hält. Durch die Bestrahlung verliert sie Geschmacks- und Geruchssinn und ihre Augenbrauen, die Haut ist verbrannt, die Schleimhäute in Mund und Rachen bluten.
„Nach den 40 Bestrahlungen musste ich ins Krankenhaus, ich konnte nicht mehr schlucken, nichts essen und trinken.“ Doch nun warten die Chemotherapie-Zyklen, mit einer besonders aggressiven Medikamenten-Zusammenstellung. „Die Chemotherapie hat mir alles abverlangt, körperlich und psychisch“, erzählt Doppler – sie war so schwach, dass sie sich nicht mehr selbst versorgen konnte. Ihr Partner Mario, ihre Eltern und Freunde – alle sind in dieser Zeit da und sorgen dafür, dass das Leben irgendwie weitergeht. „Ohne sie und psychologische Unterstützung hätte ich das nicht geschafft“, sagt Lisa Doppler.
Wie steht man Therapien durch, die einen fast zerbrechen lassen? „Ich hatte doch keine Wahl“, sagt Doppler: Wenn sie leben wollte, musste sie da durch, Schritt für Schritt. Festgehalten habe sie sich auch an der Aussage einer Ärztin: „Sie hat mir gesagt: Es gibt eine Statistik zu meinem Krebs, und die schaut nicht gut aus. Aber ich bin keine Statistik, ich bin ein Mensch: Ich habe eine Chance.“ Und diese Chance wollte sie nutzen.
Nach der Chemo der Halbmarathon
Am 1. September 2023 hatte sie ihre letzte Chemo. Seither ist sie tumorfrei. Alle drei Monate muss Lisa Doppler zur Staging-Untersuchung: „Das sind schlimme Tage, denn jede Untersuchung kann mein ganzes Leben verändern.“ Doch bisher hieß es jedes Mal: ohne Befund, und das bedeutet: kein Tumor.
„Natürlich wäre es mir lieber, ich wäre nicht krank geworden“, sagt Doppler. „Aber es gibt auch positive Veränderungen: Ich blicke anders aufs Leben: Ich weiß die kleinen Dinge mehr zu schätzen. Ich schiebe nichts mehr auf. Ich weiß heute: Es ist nicht selbstverständlich, in der Früh aufzuwachen und gesund zu sein.“
Nach den Therapien war Lisa Dopplers Körper extrem geschwächt und doch fasste sie sich ein Ziel: Sie wollte wieder laufen, ihre große Leidenschaft. Und sie begann wieder für den Halbmarathon in Graz zu trainieren. Zuerst ging das nur so: eine Minute laufen, eine Minute gehen. Ganz langsam, Schritt für Schritt, steigerte sie das Training, bis zum Marathon im Oktober 2024 lief sie insgesamt 700 Kilometer. Und am 13. Oktober überschritt sie nach der vollen Halbmarathon-Distanz die Ziellinie in Graz: „Es war ein persönlicher Sieg: Ich hatte endlich wieder das Gefühl, dass ich Einfluss auf meinen Körper habe und wir wieder zusammenarbeiten.“ Die alte Lisa, die gibt es nach der Erkrankung nicht mehr – aber Lisa Doppler baut sich jetzt ihr neues Leben zusammen, Schritt für Schritt.
Die schlechte Prognose, eine durchschnittliche Überlebenszeit von nur wenigen Monaten, das hat Doppler natürlich nicht vergessen: „Ja, es gibt keinen Tag, an dem ich nicht daran denke, dass der Krebs zurückkommen könnte. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich noch fünf Jahre lebe, ist bei mir vielleicht geringer als bei anderen. Aber es ist auch so: Niemand weiß, was morgen ist.“