Theorie und Praxis gehen häufig auseinander. Das ist auch bei ME/CFS nicht anders. Seit Ende der 1960er-Jahre ist die schwere, chronische Multisystemerkrankung von der WHO als (neurologische) Erkrankung anerkannt. In der Praxis leiden die Betroffenen aber noch 2024 unter fehlenden öffentlichen Strukturen und einem geringen Verständnis ihres Leidens. Dies ist auch in Österreich der Fall, Spezialambulanzen gibt es keine, Patientinnen und Patienten können sich nur an eine Handvoll von Fachleuten wenden. Zudem müssen sie meist lang um Anerkennung ihrer Erkrankung, um Rehageld und Ähnliches kämpfen.

ME/CFS steht für Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom. Diese Erkrankung nimmt auf unterschiedlichste Körperfunktionen Einfluss. So ist meist das Immunsystem betroffen, auch das autonome Nervensystem, das Gefäßsystem und der zelluläre Energiestoffwechsel können verändert sein. Und den Betroffenen fehlt es vor allem an dieser Energie, viele sind aufgrund massiver Erschöpfung arbeitsunfähig, Schätzungen zufolge sind ein Viertel der ME/CFS-Betroffenen gar an Haus oder Bett gebunden. In Österreich geht man aufgrund von Schätzungen von rund 80.000 Betroffenen aus. Laut einer Studie der Med-Uni Wien wird als Folge der Covid-Pandemie, in der ME/CFS als schwerste Form des Post-Covid-Syndroms (PCS) auftritt, die Zahl der Betroffenen weiterhin stark ansteigen. Denn virale, aber auch bakterielle Infekte können Auslöser von ME/CFS sein.

In der Theorie ist Fachleuten bewusst, dass diese Betroffenen eine spezielle Behandlung brauchen, denn eine ursächliche Therapie gibt es nicht, es geht meist darum, dass sich der Zustand nicht verschlechtert. Aus diesem Grund dürfen sich die Patienten auch nicht über ihre persönliche Belastungsgrenze hinaus anstrengen. Überschreiten sie diese Grenze, kommt es zu einer deutlichen Verschlechterung des Zustandes, der auch durch Ruhe nicht besser wird.

Genau diese Belastungsgrenze wird aber überschritten, wenn anstrengende Wege zu Ärzten, Gutachten oder Ähnlichem zu bewältigen sind bzw. wenn Ärztinnen nicht um die Erkrankung ME/CFS Bescheid wissen. Um diesem Unwissen entgegenzuwirken, hat das Projekt „Care for ME/CFS“ um die Immunologin Eva Untersmayer-Elsenhuber (Med-Uni Wien) einen Praxisleitfaden entwickelt – vor allem auch unter Einbindung Betroffener. Die fehlende Expertise in weiten Teilen des österreichischen Gesundheitssystems zeige sich auch in der langen Diagnosedauer von durchschnittlich fünf Jahren.

Der Leitfaden enthält klare Ansatzpunkte für Gesundheitsberufe, zum Beispiel in Bezug auf Diagnostik. So wird in diesem Zusammenhang erklärt, welche Symptome vorliegen müssen und welche Schritte bzw. Untersuchungen es braucht, um ME/CFS diagnostizieren zu können. Auch Therapieansätze werden besprochen, etwa welche Art von Medikamenten zum Einsatz kommen können. Es wird auch darauf eingegangen, wie eine für ME/CFS-Betroffene geeignete Versorgungsstruktur aussehen sollte. Hier sind etwa auch bauliche Punkte zu betrachten, denn schwer und sehr schwer Betroffene sind weitgehend bettlägerig, diese können nicht einfach eine Ambulanz aufsuchen, lange Wartezeiten in lauter, heller Umgebung können zudem für eine Reizüberflutung sorgen. In einer Kooperation mit der TU Wien wird dieses Wissen in Planungsentwürfe für eine auf ME/CFS spezialisierte Versorgungseinrichtung umgesetzt.

„In unserem Projekt sehen wir ganz eindeutig, dass ME/CFS-Betroffene, die an einer hohen Krankheitslast und einer starken funktionalen Einschränkung leiden, die Anbindung zum österreichischen Gesundheitssystem verlieren“, sagt Expertin Untersmayr-Elsenhuber.