Sie tragen einen komplizierten Namen, sind in unserem Alltag aber allgegenwärtig: Ultraprozessierte oder hochverarbeitete Lebensmittel wie Kartoffelchips, Tiefkühlpizzen, Softdrinks oder Packerlsuppen rücken immer mehr in den Fokus der Ernährungsforschung. Es sind Produkte, die in ihrer Textur und Zusammensetzung oft nichts mehr mit ursprünglichen Nahrungsmitteln zu tun haben und deren Liste an Inhaltsstoffen für den Durchschnittskonsumenten kaum zu entschlüsseln ist. Ernährungsgesellschaften, Forscher, Ärzte und Diätologen beschäftigen sich mit der Frage: Sind ultraprozessierte Lebensmittel ultraböse?
Zunächst geht es für den Konsumenten darum, diese Produkte überhaupt zu erkennen, wie Stoffwechselexpertin Karin Amrein unterstreicht: „Je mehr Dinge auf der Zutatenliste stehen, die ich nicht aussprechen kann, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um ein ultraprozessiertes Lebensmittel handelt.“ Amrein hatte kürzlich im Rahmen der intensivmedizinischen Tagung „Intensiver Sommer“ zu einer Podiumsdiskussion zum Thema hochverarbeitete Lebensmittel geladen. Ein weiteres „Alarmsignal“: Wenn ein Produkt auf der Verpackung damit wirbt, dass es gesund sei oder „extra viel“ eines gesunden Inhaltsstoffes enthalte, sei auch Vorsicht angesagt, so Amrein.
Dass die Zutatenliste von Fertiggerichten oder Naschereien so lange ist, liegt an den Prozessen, die sie durchlaufen: „Die Industrie will diese Produkte möglichst lange haltbar machen, dafür muss der Wassergehalt gesenkt und Konservierungsstoffe zugesetzt werden“, erklärt Fritz Treiber, Ernährungsexperte an der Uni Graz. Aber nicht nur das: Damit die Produkte, die in ihre Einzelteile zerlegt und neu zusammengebaut sowie mit Pflanzenölen oder Fasern versetzt werden, uns schmecken, braucht es viel an Zucker und Salz sowie künstliche Aromen und Geschmacksverstärker. Was dabei herauskommt, sind Produkte, die zwar reich an Energie, aber sehr arm an Nähr- und Mineralstoffen sind. „Wir beobachten dadurch eine echte Nährstoff-Aushöhlung in unserer Ernährung“, sagt Sandra Holasek, Ernährungsexpertin der MedUni Graz. „Diese Produkte liefern schnelle Energie, aber wenig Sättigung – wir wollen immer mehr davon essen, weil wir einfach nicht satt werden“, sagt Holasek. Und so beginnt der Teufelskreis, der mit suchtartigem Verhalten verglichen werden kann.
Eine große Untersuchung, die im renommierten Fachmagazin „British Medical Journal“ veröffentlicht wurde, zeigte: Zwölf Prozent der Kinder sowie 14 Prozent der Erwachsenen zeigen bei industriell verarbeiteten Lebensmitteln ein Suchtverhalten, das jenem von anderen abhängig machenden Substanzen ähnelt. Dazu zählen mangelnde Kontrolle, großes Verlangen sowie Entzugserscheinungen. Dabei wurden Daten aus 36 Ländern analysiert. Der Grund, wieso manche Menschen diesen Produkten nur schwer widerstehen können, liegt an der Zusammensetzung dieser Lebensmittel. Viele Kohlenhydrate, wie etwa Zucker, gepaart mit einem hohen Fettgehalt sprechen das Belohnungszentrum im Gehirn an.
„Das Hauptproblem“, beschreibt Molekularbiologe Fritz Treiber, „ist, dass diese Lebensmittel so aufgebaut sind, dass sie im Körper viel schneller aufgenommen werden als natürliche Nahrungsmittel. Sie sind quasi vorverdaut.“ Während ein natürliches Lebensmittel die Verdauung und den Darm über lange Zeit beschäftigt und damit auch die Sättigung verlängert, verwandeln sich ultraprozessierte Lebensmittel im Körper sehr schnell in Energie – „unser Körper hat evolutionär gar nicht gelernt, mit solchen umstrukturierten Lebensmitteln umzugehen“, sagt Treiber. Die Folgen sind sichtbar: Übergewicht und all die damit verbundenen Folgeerkrankungen.
Das Ausmaß der gesundheitlichen Auswirkungen von hochverarbeiteten Lebensmitteln hat eine Studie der Universität Wien so auf den Punkt gebracht: Hochverarbeitete Lebensmittel erhöhen das Risiko, an mehreren Krankheiten gleichzeitig zu leiden. Vor allem Krebserkrankungen und Herz-Kreislauf-Erkrankungen stehen demnach mit einem hohen Konsum von ultraverarbeiteten Lebensmitteln in Verbindung.
Dass es diese Produkte überhaupt gibt, ist unserem schnelllebigen, gestressten Alltag geschuldet: „Oft fehlt einfach die Zeit, selbst zu kochen“, weiß Diätologin Birgit Kogler. Die Industrie bediene damit einen Bedarf in der Gesellschaft nach schnell verfügbaren, „snackbaren“ und günstigen Nahrungsmitteln, die auch unterwegs gegessen werden können. Die Produkte würden sich so langsam in den täglichen Speiseplan schleichen, die Geschmacksvorlieben verändern sich und „irgendwann hinterfragt man diese Gewohnheiten nicht mehr“, sagt Kogler. Besonders bedenklich sei es, wenn Kinder mit solchen Produkten aufwachsen: „Kinder und Jugendliche verlieren den Bezug zu natürlichen Lebensmitteln, außerdem können Nährstoffdefizite auftreten“, warnt Kogler. Erhöhte Blutzuckerwerte, negative Auswirkungen auf die Darmgesundheit, diverse Nahrungsmittelunverträglichkeiten: All das könne die Folge einer solch hochverarbeiteten Ernährung in der Kindheit sein.
Wie sieht nun der richtige Umgang mit diesen Produkten aus? So wenig wie möglich davon konsumieren, ist die einhellige Empfehlung der Experten. „Es gibt eigentlich keinen Grund, hochverarbeitete Lebensmittel zu essen“, sagt Fritz Treiber. Auch in den Empfehlungen der Ernährungsgesellschaften heißt es: „Zucker, Salz und Fett stecken oft ‚unsichtbar‘ in verarbeiteten Lebensmitteln wie Wurst, Gebäck, Süßwaren, Fast Food und Fertigprodukten“, unterstreicht Holasek. Wird hiervon viel gegessen, steigt das Risiko für Übergewicht, Bluthochdruck, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Typ-2-Diabetes.