Wenn der Heißhunger nachts zuschlägt: Gehen Sie nachts auch an Kühlschrank oder Süßigkeiten-Schublade? Das kann bloß eine schlechte Angewohnheit sein – oder ein Hinweis auf eine Essstörung: das Night-Eating-Syndrom (NES).
Wer von einem Night-Eating-Syndrom betroffen ist, isst zu später Stunde übermäßig viel, teilweise nachdem er oder sie schon geschlafen hat. „Mindestens 25 Prozent der täglichen Kalorien werden regelmäßig spät aufgenommen“, sagt Anja Hilbert, Professorin für Verhaltensmedizin an der Uniklinik in Leipzig. Doch: Was „regelmäßig“ bedeutet, ist wissenschaftlich nicht definiert. Eine Orientierung gibt US-Psychologie-Professorin Kelly C. Allison: Demnach kann die Störung vorliegen, wenn das nächtliche Essen über mindestens drei Monate an mindestens zwei Tagen in der Woche vorkommt.
Das allein reicht für eine Diagnose aber noch nicht aus. Denn so ein Essverhalten haben auch Menschen, die im Schichtdienst arbeiten. Wenn sie tagsüber zu wenig zum Essen kommen, findet das eben mitten in der Nacht statt. „Abgrenzend dazu gibt es beim Night-Eating-Syndrom immer auch eine psychische Komponente“, sagt Anja Hilbert. Es geht also um mehr als um die fehlende Ess-Struktur im Alltag. Mit Folgen: Einige Menschen mit NES entwickeln Übergewicht oder Adipositas. Das nächtliche Essen kann sich außerdem schlecht auf den Schlaf und dann auch auf den Alltag auswirken. Auch Schuld- und Schamgefühle für ihr Verhalten können bei Betroffenen ein Thema sein.
Wer entwickelt diese Essstörung?
Etwa ein Prozent der Menschen hat aktuellen Forschungen zufolge das Night-Eating-Syndrom. „Die Dunkelziffer ist vermutlich hoch“, sagt Anja Hilbert. Denn es handle sich um eine Essstörung, die wenig bekannt sei. „Weder Fachleute noch Betroffene wissen viel darüber.“ Über Ursachen und Risikofaktoren ist noch nicht viel bekannt. Forschende sehen eine Verbindung zwischen NES, Angststörung und Depression. „Wenn man traurig ist oder Angst hat, ist Trostessen eine naheliegende Strategie“, sagt Anja Hilbert. Ein weiterer Risikofaktor könnte Stress sein. Außerdem konnten Wissenschaftler eine familiäre Häufung beobachten – möglicherweise spielen also auch die Gene eine Rolle. Bei Menschen mit Mehrgewicht und Adipositas tritt das Night-Eating-Syndrom öfter auf.
„Im Gegensatz zu vielen anderen Essstörungen kommt es auch häufig bei Männern vor“, sagt Martin Teufel, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Essstörungen. Ein weiterer, wichtiger Unterschied zu anderen Essstörungen: Bei Menschen mit NES ist die innere Uhr aus dem Takt. „In der Forschungsliteratur gibt es Hinweise darauf, dass nicht nur Schlaf- und Wachzeiten sich verschieben, sondern auch die Hormone durcheinandergeraten sind“, sagt Hilbert. Das könnte beispielsweise das Hormon Melatonin betreffen, das beim Einschlafen hilft. Und auch Leptin, ein Hormon, das das Sättigungsgefühl steuert und bei einem gesunden Tag-Nacht-Rhythmus dafür sorgt, dass nachts kein Hunger auftritt. Ob diese veränderte Hormonlage Ursache oder Folge der späten Nahrungsaufnahme ist, ist Hilbert zufolge aber bisher nicht bekannt.
Wann sollte ich mir Hilfe holen?
Wer regelmäßig spätabends isst, aber dadurch weder psychisch, körperlich noch sozial einen Leidensdruck verspürt, müsse damit nicht zum Arzt gehen, sagt Teufel. „Aber wenn ich merke, dass ich nicht mehr rauskomme, nicht richtig schlafe oder ein schlechtes Körperbild entwickle, sind das Gründe, sich Hilfe zu holen.“ Ähnlich sieht es auch Anja Hilbert: „Wichtiges Kriterium für eine Behandlung ist, dass man darunter leidet oder sich beeinträchtigt fühlt.“
Die gute Nachricht: Es gibt Möglichkeiten zur Behandlung. Zum Beispiel durch eine Psychotherapie oder auch eine Lichttherapie. Welche Behandlungsform die richtige ist, hängt individuell von den Patienten ab, sagt Martin Teufel. Ein erster guter Weg ist der zum Hausarzt oder der Hausärztin.