In den USA werden in Stellenausschreibungen in der Computerbranche oft speziell Legastheniker gesucht, weil sie häufig eine außergewöhnliche technische Begabung haben.“ Mit diesem Satz nimmt Manuela Resch allen, die Legasthenie als eine Schwäche oder Störung abtun, den Wind aus den Segeln. Die diplomierte Legasthenie- und Dyskalkulietrainerin beobachtet in ihrer Arbeit immer wieder, dass legasthene Menschen oft besondere Fähigkeiten haben und sehr „smart“, neudeutsch für intelligent, sind.
Die lange Riege an prominenten Legasthenikern gibt dieser Einschätzung recht: US-Bestsellerautor John Irving bekannte sich öffentlich zu seiner Legasthenie, genauso Weltstars wie Schauspielerin Keira Knightley oder Sänger Robbie Williams. Victoria, die künftige Königin von Schweden, ist legasthen. Und angeblich war sogar Genie-Hirn Albert Einstein unter den Betroffenen. Expertin Manuela Resch erkennt bei ihren Klienten häufig sehr gute Gedächtnisleistungen. Gerade Kinder kompensieren mit ihrer Merkfähigkeit eine Legasthenie vielfach sehr lange, „indem sie den Schulstoff einfach auswendig lernen, ohne ihn zu verstehen“, so Resch.
Zu wenig, zu spät und nicht richtig
Allerdings wird in unseren Breiten in der Regel nicht nur zu spät interveniert, sondern in vielen Fällen auch falsch. Resch: „Oft wird eine Legasthenie mit einer Lese-Rechtschreib-Schwäche verwechselt. Die betroffenen Kinder werden zur Nachhilfe geschickt, müssen immer wieder die gleiche Ansage üben und sind frustriert, wenn das alles keinen Erfolg bringt. Dabei muss man ganz woanders ansetzen.“ Denn Legasthenie und Lese-Rechtschreib-Schwäche sind zwei Paar Schuhe. Ersteres ist eine Veranlagung, die durch eine differente Sinneswahrnehmung entsteht. Resch nennt Beispiele: „Legastheniker können meist optisch nicht unterscheiden zwischen d und b. Oder sie können akustisch den Unterschied zwischen d und t nicht wahrnehmen.“ Die Folge sind Wahrnehmungsfehler, die von Lehrern gerne als Unaufmerksamkeit gedeutet werden, etwa wenn ein Kind ein und dasselbe Wort in einem Text immer anders schreibt.
Anders verhält es sich bei einer Lese-Rechtschreib-Schwäche. „Ihr liegen ständige Überforderung oder körperliche Ursachen wie Schwerhörigkeit oder eine Sehschwäche zugrunde. Auch familiäre Ereignisse wie Scheidung oder Tod sowie zu geringe Förderung können eine Lese-Rechtschreib-Schwäche hervorbringen.“ Hier kann man viel mit Symptomtraining – also mit gezieltem Üben an den Fehlern, klassischer Nachhilfe quasi – erreichen. Bei einer Legasthenie dagegen reicht das nicht. Manuela Resch: „Legasthene Kinder benötigen zusätzlich auch eine Förderung der Sinneswahrnehmung und ein Training der Aufmerksamkeit. Nur wenn diese drei Bereiche individuell an die Bedürfnisse des Kindes angepasst werden, können Erfolge erzielt werden.“
Unnötiger Leidensweg
Die endgültige Feststellung, ob Legasthenie oder Lese-Rechtschreib-Schwäche vorliegt, passiert bei einem diplomierten Trainer des österreichischen Dachverbands für Legasthenie (EÖDL, siehe Infobox). Dafür wird ein in den USA entwickeltes internationales Testverfahren herangezogen. Doch einige Anzeichen einer Legasthenie sind schon vorher für Eltern und Lehrer beobachtbar, wenn diese genau hinsehen. Beispiele dafür wären: Ist das Kind leicht ablenkbar? Hat es ein verzögertes Merkvermögen bei Buchstaben, Wörtern, Zahlen? Schreibt es über den Rand hinaus? Verdreht das Kind Buchstaben oder Zahlen? Lässt es Buchstaben aus oder schreibt Wörter „verdreht“? Vergisst das Kind beim Lesen, Buchstaben zu sprechen, oder „erfindet“ es Wörter? Kann es harte und weiche Konsonanten nicht unterscheiden?
Manuela Resch bedauert, dass Legasthenie und Dyskalkulie in Österreich erst in der Schule zum Thema werden. „Anhand einfacher Tests kann man schon bei Kindergartenkindern feststellen, ob es Defizite im Bereich der Sinneswahrnehmung hat. Die kann man in den ersten Lebensjahren bereits spielerisch trainieren.“ Durch dieses frühe Training wäre es möglich, die Kinder später vor Schulproblemen zu bewahren. Resch: „Würde man schon in Kindergärten Legasthenietrainer einsetzen, könnte man den Kindern den späteren Leidensweg in der Schule zum Großteil ersparen.“ Denn auch wenn sich eine Legasthenie bis ins Erwachsenenalter nicht „auswächst“: Mit gezieltem Training, Geduld, Zeit und Lob von Eltern, Lehrern und Trainern sei es möglich, damit gut umzugehen. „Diese Kinder müssen mehr Zeit in Schreiben, Lesen oder Rechnen investieren. Andere Kinder müssen dafür in anderen Fächern mehr lernen“, erklärt Resch.
Johanna Wohlfahrt