Vernachlässigung ist die häufigste Form der Kindeswohlgefährdung – auch in Österreich. Trotzdem wird dieses Thema laut Expertinnen und Experten viel zu oft übersehen – in der Öffentlichkeit wie in der Forschung. "Es wird sogar vernachlässigt, dass wir die Vernachlässigung vernachlässigen", sagte Psychologin und Gerichtssachverständige Renate Doppel bei der Pressekonferenz zur österreichischen Kinderschutztagung.
Das zeigt sich auch im Fehlen von Daten zu diesem Thema. In Österreich kann man lediglich auf die Prävalenzstudie von 2011 zurückgreifen. Dort gaben 22 Prozent der Frauen und 14 Prozent der Männer an, Vernachlässigung in ihrer Kindheit erfahren zu haben.
Unterschiedliche Formen von Vernachlässigung
Vernachlässigung zeigt sich dabei in vielen Formen. Die offensichtliche ist die körperliche Vernachlässigung, weil diese meist auch nach außen hin sichtbar ist. "Doch das ist nur ein Aspekt. Vernachlässigung greift viel tiefer", erklärt Petra Birchbauer, Psychologin und Vorsitzende im Bundesverband Österreichischer Kindesschutzzentren. Denn es gibt auch erzieherische und kognitive Vernachlässigung, welche Kinder in ihrer Möglichkeit, sich zu entwickeln, stark einschränkt.
Auch emotionale Vernachlässigung wirkt sich auf die Entwicklung von Kindern stark aus. Diese liegt etwa vor, wenn es in der Eltern-Kind-Beziehung an Stärkung, Zuneigung, Emotionen und dem Schutz vor Gefahren fehlt. Vernachlässigung habe Birchbauer zufolge starke Auswirkungen, die sich vom ersten Lebensjahr bis ins hohe Erwachsenenalter erstrecken.
Auswirkungen im Gehirn
Wie sich Vernachlässigung genau auswirkt, erklärt Neurobiologin Nicole Strüber: "Wenn wir einen Blick in das menschliche Gehirn werfen, sehen wir, dass Strukturen, Stoffe und Verschaltungen durch frühe Erfahrungen beeinflusst sind." So haben Menschen, die als Kinder vernachlässigt wurden, etwa eine überaktive Amygdala, was das Auftreten von Angsterkrankungen wahrscheinlicher macht. Auch Verbindungen, die für die Emotionsregulation zentral sind, sind bei Betroffenen oft weniger ausgeprägt, sodass diese mit ihren Gefühlen oft schwerer kompetent umgehen können. Und das Cortisolsystem bildet sich anders aus, was die Leistungsfähigkeit beeinflussen kann.
Dazu kommt: Vor allem bei emotionaler Vernachlässigung ist im späteren Leben das Bindungshormon weniger aktiv als bei Menschen, die keine Vernachlässigung erfahren haben, was es für Betroffene schwieriger macht, sich in Beziehungen zu entspannen. "Wenn man mit vernachlässigten Kindern arbeitet, ist es dann vor allem wichtig, sie versäumte Erfahrungen nachholen zu lassen, damit das Gehirn darauf reagiert und sich entwickeln kann", so Strüber. Zentral sei dabei, die angebotenen Erfahrungen nicht auf das Alter, sondern auf die Entwicklungsstufe des Kindes anzupassen.
Genau hinschauen
Im Umgang mit Vernachlässigung mahnt Doppler auch, dass die Lösungsansätze hierzulande oft zu oberflächlich sein: "Es ist wie eine Oberflächenreinigung bei einem Auto. Die bringt einen auch nicht weiter, wenn der Motor kaputt ist." Vor allem bei den Eltern sei genau hinzuschauen, denn meist haben diese in der Kindheit ähnliche Erfahrungen gemacht: "Diese hatten häufig keine zuverlässige Bindungsperson an der Seite, wenn Gefahr drohte."
Betroffene Familien leben laut den Experten meist eher zurückgezogen und haben nur wenig soziale Kontakte. Das stehe im Zusammenhang mit den frühen Erfahrungen der Eltern und dem damit einhergehenden Bedürfnis, sich sicher zu fühlen: "Das Leben im Häuslichen wird als größter Schutz wahrgenommen." Daher sei es besonders wichtig, die Hilfe zu den Familien zu bringen und deren Wahrnehmungen ernst zu nehmen.
Neue Studien notwendig
Um dem Problem der Vernachlässigung entgegenzuwirken, müssen sich den Expertinnen zufolge einige Dinge ändern. Zum einen brauche es definitiv Wirksamkeitsstudien, die verschiedene Maßnahmen begleiten und deren Auswirkungen erheben. Zusätzlich brauche es konkrete Hilfsangebote, die verstärkt das Ziel haben, in diese Familien hineinzugehen. Zum anderen sei es auch zentral, dass vonseiten der Politik genauer hingesehen wird. Und: "Das Thema Vernachlässigung ist noch immer stark weiblich konnotiert. Meist werden die Mütter verantwortlich gemacht. Aber wir müssen auch bei den Vätern genauer hinsehen", so Birchbauer.