Hier wohnt niemand mehr. Laub vom Wilden Wein liegt vor der Tür, niemand recht es zusammen. Hinter dem Türschlitz häufen sich Werbeprospekte und Rechnungen. Die leichten Kleidungsstücke an der Garderobe passen nicht mehr zur Jahreszeit.
Die Luft ist stickig. Die Heizung läuft auf Minimum, damit nichts einfriert. Laden hängen halb leer aus den Kommoden. Wie oft haben wir die Habseligkeit schon durchkämmt, die zum Leben unserer Eltern gehörten? Jedes Mal war wieder etwas dabei, an dem ein Rest von Erinnerung haftete oder die Hoffnung, die Sachen könnten vielleicht noch nützlich werden. Und wie oft sind wir zur Carla gefahren, zum Sturzplatz, zur Kleiderannahmestelle?
Staubränder markieren die Stellen, wo die Eltern vor vielen Jahren Bilder aufgehängt hatten. Sie haben schon lange nicht mehr ausmalen lassen. „Wir sind schon in der Nachspielzeit“, pflegten sie mit ironischem Ernst zu sagen und wiesen mit dem makabren Argument notwendige Investitionen von sich.
Die Ölbilder der Ahnen, wer wird sie nehmen? Wer kann noch sagen, wie viele „Ur-“ vor der Verwandtschaftsbeziehung stehen müssen? Ernst blicken sie aus ihren schweren Rahmen, als wollten sie ihrem Leben nachträglich Dauer und Gewicht verleihen; bürgerliche Versuche, an adelige Traditionen anzuknüpfen. In heutigen Wohnungen wirken sie fehl am Platz. Aber gibt man die eigene Verwandtschaft ins Dorotheum?
Auf dem Dachboden stapeln sich Schachteln mit Zeugnissen gelebten Lebens: Briefe, Schulhefte, Fotos und Negative, angenagt von Mäusen. Aus geschredderten Buchstaben und Bildern bauen sie ihre Nester, hinterlassen giftige Ausscheidungen – neue Aufgabengebiete für den Mund-Nasen-Schutz. Das alte Mitteilungsheft aus acht Jahren Mittelschule ist noch da. Verweise auf Abszesse, grippale Infekte, Durchfälle zur Entschuldigung des Fernbleibens. Nicht alles hat gestimmt, wenn die Erinnerung nicht trügt.
Unter den staubigen, von Taubendreck verkrusteten Dachbalken steht das alte Fotolabor. Vertrocknete Chemikalien sind noch da, Fotopapier, das nicht mehr reagiert, Erinnerung an eine verflossene Epoche der Bildspeicherung. Die Schwarz-Weiß-Fotos der Familie hat Feuchtigkeit gerollt.
Die Kinderschreibtische verstauben unter Plastikplanen, sie sind viel kleiner als in der Erinnerung. Der Puppenwagen der Schwester steht noch da, ein Hochzeitskleid liegt in der Truhe. Die Mutter konnte nichts wegwerfen – eine Lehre des Krieges und der kargen Zeit danach. Orden von Menschen, die keiner von uns mehr kannte, verstauben im Kasten. Die sie verliehen haben, sind nicht mehr, die sie beeindrucken sollten, auch nicht.
Edle Mokkatassen stehen aufgereiht in der Vitrine, Geschenke von der Hochzeitsliste der Eltern. Jede ist anders. Wegen ihrer Zerbrechlichkeit blieben sie vom Gebrauch ausgespart, geschont für große Anlässe, die nie kamen, für die nächste Generation oder für den Flohmarkt. Tonfiguren, von den Kindern ungelenk geknetet, Nippes ohne Nutzwert.
Warum haben wir die vielen Briefe aufgehoben und die Postkarten aus aller Welt, banale Grüße, die ohne Zusammenhang unverständlich bleiben müssen? Und was tun mit den Liebesbriefen der Eltern? Gehen sie uns Kinder etwas an? Sollen wir sie lesen? Verbrennen? Aufbewahren?
Vaters Musiksammlung klingt in drei Haushalten weiter, lange Reihen von CDs, Schallplatten, auch ein paar Schellacks, für die eigentlich niemand Platz und Verwendung hat. Ljuba Welitsch singt die Salome, schwindelerregende 78 Umdrehungen pro Minute. Kann das ein moderner Plattenspieler überhaupt?
Jetzt hat das Haus wieder neue Eigentümer. Sie werden die verbliebenen Reste entsorgen lassen, Wände einreißen und neue errichten, bis fast nichts mehr an die Menschen erinnern wird, die hier einmal gelebt haben. Das alte Haus aber hat wieder einen Besitzerwechsel überdauert – ein kleiner Trost im Abschied.
Thomas Götz