Eine Serie von Frauenmorden erschüttert das Land. Täter sind meist den Opfern nahestehende Männer. Welche Rolle spielt die Erziehung dabei, dass aus Partnern Gewalttäter werden?
ANDREA LEHNER-HARTMANN: Da muss man differenzieren zwischen bewussten Erziehungsmaßnahmen und unbewussten, die durch die Sozialisation in einem bestimmten Umfeld wirken. Wenn ein Kind beispielsweise mit Gewalt in der Familie aufwächst, dann wird es Gewalt als inhärentes Modell von Liebe wahrnehmen. Das heißt, es wird lernen, dass man Nahestehenden, die man liebt, auch Gewalt antut. Derartige Muster wirken subtil weiter.

Wie?
Je nach Geschlecht unterschiedlich: Junge Männer lernen, dass sie Gewalt aufgrund ihres Geschlechts ausüben dürfen; junge Frauen, dass sie aufgrund ihres Geschlechts Gewalt erleiden. Man darf das aber nicht auf das familiäre Umfeld beschränken.

Sondern?
Es geht um die Gesamtsituation, in der man aufwächst. Und in einer Gesellschaft wie der österreichischen ist es nicht so eindeutig klar, wie mit Frauen umgegangen wird, wie Ehe und Familie verstanden werden. Da werden Grenzen ausgereizt und überschritten. Wenn Männer Gewalt ausüben, haben sie nicht immer das Gefühl, etwas Falsches zu tun. Eher dominiert die Überzeugung, es ist mein gutes Recht.

Woher kommt dieses Denken?
Es beginnt schon in der Kindheit, wo es darauf ankommt, wie Gewalt, die Kinder ausüben, sanktioniert wird. Das heißt nicht, dass Eltern bei jedem kleinen Geschwisterzank eingreifen, aber dass sie Orientierung geben, wie weit man gehen darf und wohin etwas führen kann – für einen selbst, aber vor allem für den anderen. Damit die Kinder von Anfang an eine Haltung lernen, sich in den anderen hineinzudenken, Empathie zu entwickeln. Damit die Kinder die Konsequenzen des eigenen Handelns einschätzen lernen, müssen Eltern Feedback geben. Es braucht aber auch eine Ausdeutung durch erziehende Institutionen wie Kindergärten und Schulen. Wenn eine Schule auf ihrer Homepage schreibt, dass sie eine „gewaltfreie Schule“ sein will, werde ich skeptisch.

Was würden Sie gern lesen?
Ich will wissen, wie sie mit Gewalt umgeht, wenn es Probleme gibt. Wenn im Schulhof immer weggeschaut wird, signalisiert ein System auch, wo soziale Grenzen liegen. Es braucht da ständige Reflexionsschleifen, sonst schleift sich etwas ein. Es geht aber nicht um Verbote, sondern um Einsichten und ein Sich-Auseinandersetzen. Das ist harte pädagogische Arbeit. Sie zu machen, hat aber Vorrang gegenüber dem Durchpeitschen von Lehrplanstoff. Diesbezüglich könnte man in der Schule noch nachjustieren.

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Wie können oder müssen sich Eltern einbringen?
Lehrer, Schüler und Eltern greifen wie Zahnräder ineinander. Da kann sich niemand davonstehlen und sagen, das geht mich nichts an. Aber es fehlen passende Strukturen, weil Lehrer Eltern oft – teilweise verständlicherweise – als Störfaktor empfinden und umgekehrt Eltern glauben, dass sie – nur weil sie selbst einmal in die Schule gegangen sind – eh Experten sind.

Hat die Gesellschaft da insgesamt Nachhilfebedarf?
Ja, weil der Umgang mit Gewalt Auswirkungen darauf hat, wie sich eine Gesellschaft und das demokratische Zusammenleben gestalten.

Was entgegnen Sie jenen, die meinen, die Gewalt sei „importiert“ durch Menschen, die anderen kulturellen Werten des Zusammenlebens folgen?
Gewaltanwendung ist eine Kulturfrage, die man nie an ethnischer Zugehörigkeit festmachen kann. Die Migrantendiskussion verdeckt sehr oft, wie sehr Gewalt auch in unseren sozialen Milieus verbreitet ist – und zwar am ausgeprägtesten traditionellerweise in den untersten, aber auch obersten Schichten. Entscheidend ist immer, welche Männlichkeitsnormen in den jeweiligen Peergruppen dominieren.

Welche Muster und Normen wirken bei uns?
Es sind noch immer klare männliche Muster, die dominieren und mit denen sich Frauen teilweise schwertun. Etwa wenn es heißt: Konkurrenz belebt. Wer sagt, dass nicht Kooperation besser wäre? Aber Burschen werden oft in traditionelle Rollenbilder gedrängt, in denen ihnen signalisiert wird, dass man eine bestimmte Ordnung erkämpfen und erobern muss. Daher ist es wichtig, sie professionell zu begleiten und sie zu bestärken, wenn sie nicht kämpfen wollen. Man muss ihnen zu verstehen geben, dass sie keine Versager sind.

Wie müsste die Gesellschaft auf Gewalt reagieren?
Mit sozialer Ächtung. Solange Gewaltanwendung mit Applaus bedacht wird, bleibt es schwierig. Auch Mädchen, die es beklatschen und stolz darauf sind, dass sich ein Bursche um sie prügelt, müssen wissen, dass er auch das Potenzial in sich trägt, dass er später sie schlägt. Ihnen muss klar sein, dass er zwar jetzt um mich kämpft, aber später auch mich bekämpfen kann, weil sich da ein Besitzergreifungsdenken anbahnt.

Fehlt uns die Hellhörigkeit für Signale? Könnten Freunde und Familie früher reagieren?
Ich bin dagegen, dass man Einzelnen die Schuld zuschiebt, zum Beispiel den Eltern. Es ist ein Zusammenspiel unterschiedlicher Faktoren in einem Milieu, in dem ein gewaltbereiter Mensch entweder darin bestärkt oder daran gehindert wird, Gewalt auszuüben. Insofern sind Gewalttaten wie die Femizide ein Gesamtversagen unserer Gesellschaft.

Was bringen eilige Maßnahmenpakete?
Allein dass derartige Programme öffentlich diskutiert werden, ist gut. Es geht ja nicht nur um potenzielle Täter, sondern darum, deren Umfeld zu sensibilisieren, damit dieses ihm dann signalisiert, dass sein Denken und Tun nicht okay sind. Wenn man so die Stammtische erreicht, ist es schon ein Erfolg.

Was braucht es für die Zukunft?
Geschlechtergerechtigkeit statt eines Festschreibens bestimmter Verhaltensmuster. Warum können Burschen nicht auch einfühlsam sein, warum sollen Mädchen nicht – gewaltfrei – ihre Anliegen durchkämpfen und in ihrer Stärke wahrgenommen werden?