Twilight-Star Kristen Stewart hat es ebenso wie der deutsche Schriftsteller Benjamin Stuckrad-Barre und der Schwimm-Olympionike Michael Phelps: AD(H)S. Sie alle haben gelernt nach einer oft schwierigen Kindheit und Jugend mit der psychischen Störung, die sich vor allem durch mangelnde Aufmerksamkeit und/oder Hyperaktivität äußert, umzugehen und sie sogar für sich zu nutzen. Die Erkrankung birgt, allen negativen Seiten zum Trotz, auch Potenzial. „Obwohl es in unserer Gesellschaft normalerweise ein Nachteil ist, diese Störung zu haben, kann sie für bestimmte Berufe ein Vorteil sein“, sagt Kinder- und Jugendpsychiater Christoph Göttl. Kreative Jobs oder aber Fluglotsen und Börsenbroker beispielsweise. Warum? Menschen mit ADHS würden schneller als andere Unregelmäßigkeiten in Kursen oder im Flugverkehr bemerken. Für ganz spezielle Kontexte sei dies „ein Riesenvorteil“. Um diesen nutzen zu können, braucht es jedoch besondere Aufmerksamkeit in der Schule.
Als Störfaktor abgestempelt?
Wenn sich Kinder in den kommenden Tagen wieder in den Klassenzimmern einfinden, wird zunächst allerdings das Offensichtliche im Vordergrund stehen: Herumgezapple, Zwischenrufe, fehlende Konzentrationsfähigkeit, Tagträumereien. Das sind nur einige der zahlreichen Symptome, die AD(H)S hervorbringen kann. Nicht immer sind alle Symptome im gleichen Maße ausgeprägt. Im Schulalltag mit überfüllten Klassen, eingeschränkten Personalressourcen und mangelnder Infrastruktur werden „Zappelphilippe“ häufig einfach als störend abgestempelt. Vor allem dann, wenn keine Diagnose gestellt wurde. Dabei bietet die wissenschaftliche Forschung für den Umgang mit ADHS-Kindern zahlreiche Lösungsansätze.
Lösungen werden nicht immer eingesetzt
Das Problem: Oft finden diese gar nicht erst den Weg ins Klassenzimmer. Slava Dantchev arbeitet an der Universität Wien an einem Forschungsprojekt, das der Frage nachgeht, woran die Umsetzung der Maßnahmen im Klassenzimmer scheitert. Einerseits, so Dantchev, gebe es einen Wissensmangel im Hinblick auf die Störung allgemein. Andererseits spiele auch die Einstellung der Lehrpersonen zum Störungsbild, das oft mit falschen Überzeugungen behaftet sei, eine wesentliche Rolle. Zudem fehle oft auch das Vertrauen der Lehrpersonen in die eigenen Fähigkeiten sowie die Überzeugung der Wirksamkeit der Interventionen. Eine brisante Mischung, wenn die Zukunft eines Kindes davon abhängt.
Vorwürfe und eingefahrene Situation
Von so einem schulischen Umfeld berichtet die Mutter eines ADHS-Kindes. Nach einer schwierigen Volksschulzeit wurde die Diagnose ADHS bei ihrem Sohn in der NMS mit elf Jahren gestellt. „Ich dachte, wenn ich eine ADHS-Diagnose hätte, muss die Schule sich darauf einstellen“, schildert die Mutter. Die Probleme hatten sich zu diesem Zeitpunkt schon stark hochgeschaukelt. „Alle Vorschläge, die ich gemacht habe, damit er sich besser konzentrieren bzw. seinen Bewegungsdrang ausleben kann, wurden als nicht durchführbar abgelehnt.“ Im Gegenzug wurden die Klagen aus der Schule immer lauter: Die Rückmeldungen seien durch die Bank negativ gewesen: Er könne nicht still sitzen, halte sich nicht an die Regeln, rede zurück, diskutiere über die Sinnhaftigkeit von Aufgaben, könne sich nicht konzentrieren, mache nicht mit, höre nicht zu, sei chaotisch. Lösungsorientierte Vorschläge seien nie dabei gewesen. „Ich wurde ständig angerufen, in die Schule zitiert und dann wurde der Frust bei mir abgelassen“, erzählt die Mutter. Die Kommunikation zwischen Elternhaus und Schule lief aus dem Ruder.
Was tun bei festgefahrenen Fronten? „Wir erwarten uns, wenn eine Lehrkraft mit dieser Problematik konfrontiert wird, dass sie, sollte sie das nötige Wissen und Know-how nicht präsent haben, mit uns Kontakt aufnimmt“, betont der leitende steirische Schulpsychologe Josef Zollneritsch. Auch Eltern könnten sich jederzeit an die Schulpsychologie wenden, falls die Schule nicht entsprechend reagiere. Wie der Umgang mit ADHS-Kindern sei, hänge davon ab, wie aufmerksam Lehrkräfte und Schulleitung seien.
Welche Interventionen helfen im Klassenzimmer?
Welche einfach umsetzbaren Interventionen gibt es für das Klassenzimmer? Unterrichtsziele klar formulieren, Zeit strukturieren, Abläufe genau aufzeigen, Reize in der Lernumgebung reduzieren, Lärmquellen minimieren, klare Verhaltensregeln formulieren, so ein kurzer Auszug der Lösungsansätze von Dantchev. Natürlich könne nicht alles selbstständig geregelt werden, wenn man alleine im Klassenzimmer stehe. „Es ist auf jeden Fall möglich, kleine Dinge im Alltag einzusetzen, die sehr effektiv sind“, weiß Dantchev.
Was noch hilft? Lob, Konzentration auf Stärken und Potenziale. Und was nicht? Ermahnungen, Strafaufgaben, Strafandrohungen, lange Diskussionen oder laute Zurechtweisungen – ein „rotes Tuch“ für Kinder mit ADHS.
Werden die Lehrkräfte ausreichend auf ADHS vorbereitet? „In der Schulpraxis ist die ADHS-Thematik generell sehr häufig ein Thema“, erklärt Andrea Holzinger, Leiterin des Instituts für Primar- und Elementarpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Steiermark. Im Bachelor-Curriculum der Primarstufe sei ADHS aber nicht als gesonderter Schwerpunkt verankert, sehr wohl aber im Masterstudium „Inklusive Pädagogik“. Zusätzlich gebe es zahlreiche Fortbildungsmöglichkeiten, die „sehr gut von der Lehrerschaft angenommen“ würden. Ähnlich der Tenor an der Pädagogischen Hochschule Kärnten: „ADHS ist eine medizinische Diagnose und gehört in das Spektrum sozial-emotionaler Förderbereich. Der Schwerpunkt wird bei uns regelmäßig angeboten“, so die Rektorin Marlies Krainz-Dürr.
1. Wie entsteht ADHS?
Christoph Göttl: Es gibt zwei Hypothesen. ADHS wird einerseits als genetische Krankheit betrachtet. Sie betrifft das vordere Aufmerksamkeitssystem im Gehirn. Dort geht es darum, sich bei Ablenkungen zu fokussieren und bei Sachen dranzubleiben. Wenn zu viele Reize kommen, dann brauchen Kinder mit ADHS viel mehr Verarbeitungszeit. Ähnlich einem Computer, der überfordert ist. Die zweite Hypothese ist eine Traumatisierung als Ursache. Auch beide Hypothesen können gemeinsam eine Rolle spielen. Zwillingsstudien zeigen, dass zwei genetisch idente eineiige Zwillinge zu 60 Prozent beide ADHS haben, aber nicht zu 100 Prozent. Hier muss noch viel geforscht werden.
2. Medikation, ja oder nein?
Medikamente verbessern in den meisten Fällen die Situation enorm. Auch Psychotherapie statt Medikation ist ein Thema. Zusätzlich gibt es strukturierende Interventionen. Medikamente heilen zwar nicht, aber verhindern doch Schlimmes. 60 Prozent der ADHS-Patienten ohne Medikation legen im Jugendalter ein riskantes Verhalten an den Tag, sprich sie nehmen zum Beispiel Drogen, zeigen ein auffälliges Essverhalten, haben ein hohes Risiko für Suchterkrankungen, den Verlust von Partnerschaften, brüchigen Arbeits- und Ausbildungsbiografien. Die Schäden, die ein nicht behandeltes ADHS hat, sind durchaus ernst zu nehmen.
3. Wächst sich ADHS aus?
Nein, nur die Symptomatik verschiebt sich. Jene Kinder, die zum Beispiel in der Bewegung hyperaktiv sind, verschieben diese Symptome in einen enormen Rede- oder Gedankenfluss. Außerdem lernen Betroffene besser damit umzugehen. Dadurch wird ADHS scheinbar besser.
ADHS im Klassenzimmer