Eine Scheidung degradiert einen Elternteil meistens zum Besuchs-Papa oder, im selteneren Fall, zur Besuchs-Mama. Daran ändert auch die gemeinsame Obsorge nichts – es sei denn, Eltern einigen sich auf das sogenannte Doppelresidenz-Modell. Dabei verbringt das gemeinsame Kind auch nach der Scheidung annähernd gleich viel Zeit bei beiden Elternteilen.
Der Wiener Familiencoach Anton Pototschnig kennt alle Vater-Varianten aus persönlicher Erfahrung – als Lebenspartner der Mutter seines Sohnes, als Doppelresidenz-Vater und als Alleinerzieher. Als Obmann der Plattform Doppelresidenz und Familiencoach berät er seit vielen Jahren Geschiedene zu Fragen dieses Wohnmodells. „Mir ist dabei wichtig festzuhalten, dass ich Doppelresidenz keinesfalls für ein Allheilmittel halte – aber ist es ein Allheilmittel, wenn sich nach der Scheidung nur ein Elternteil um das Kind kümmert?“, fragt er und ergänzt: „Manche Eltern, die Doppelresidenz wählen, waren sich immer schon einig, dass für sie nur dieses Modell infrage kommt, andere wiederum kommunizieren zwar als Paar nicht mehr, können aber auf Elternebene gut miteinander. Studien aus Norwegen, Schweden und Amerika belegen, dass eine Paarbeziehung sogar hoch konflikthaft sein kann, und trotzdem funktioniert das Doppelresidenzmodell.“ Zum Hauptargument der Doppelresidenz-Gegner, dem Hinweis auf die Bedeutung eines „Hauptnestes“ für das Kind, weil es nicht zwischen zwei Wohnsitzen hin- und hergerissen werden solle, sagt Pototschnig: „Dadurch wird die örtliche Kontinuität höher eingeschätzt als die Beziehungskontinuität. Wenn ein Elternteil ein Kind nur noch alle 14 Tage am Wochenende sieht, ist das aber ein massiver Vertrauensbruch dem Kind gegenüber. Im Optimalfall sollten nach einer Scheidung beide Elternteile gleich präsent sein wie bei einer aufrechten Beziehung.“
Das sagt sich freilich leichter, als es ist. Organisatorisch verlangt die Doppelresidenz Familien einiges ab. Pototschnig sieht es positiv: „Was ich erlebe, ist, dass Eltern bei diesem Modell viel mehr darüber nachdenken, was genau für das Kind passt, an welchen Tagen oder in welchen Wochen es besser beim Papa ist und wann bei der Mama. Das System wird öfter adaptiert.“ Dass sich das Modell umso leichter leben lässt, wenn die geschiedenen Eltern nicht allzu weit voneinander entfernt wohnen, versteht sich von selbst. Aber was ist schon nah? „Für viele Eltern ist es ganz normal, dass ihr Kind täglich eine Stunde zur Schule unterwegs ist. Wenn die Schule des Kindes genau in der Mitte der beiden Wohnorte der Eltern liegt, ist alles kein Problem.“
In Einzelfällen funktionieren auch Extreme: „Unlängst hörte ich von einer Zehnjährigen, die jährlich die Kontinente wechselt, samt dazugehörigem Schulwechsel, nur um Kontakt zu beiden Elternteilen zu halten. Das andere Extrem sind Kinder, die bis zur Volljährigkeit täglich den Elternteil wechseln.“ Fazit: „Es geht um das, was das Kind selber will.“
Die Sorge, dass ein Kind in Doppelresidenz seine beiden Elternteile besonders gut gegeneinander ausspielen kann, lässt sich gut entkräften: „Als Besuchs-Mama oder -Papa ist es leicht, sein Kind zu verwöhnen. Bei der Doppelresidenz müssen hingegen beide Elternteile den Alltag bewältigen: lernen, aufräumen etc.“
Auch bei der Kostenfrage steigt die Doppelresidenz nicht unbedingt schlecht aus – obwohl vieles fürs Kind doppelt gekauft werden muss, will man ihm das ständige Kofferpacken ersparen. „Auch Kontakt-Elternteile richten ihrem Kind in der Regel ein eigenes Zimmer ein, das ist der größte Kostentreiber. Und viele haben sowieso in beiden Haushalten einen Grundstock an Gewand fürs Kind, einfach, weil man dem Kind eh gern etwas kauft“, sagt Pototschnig.
Wenn es ums Geld geht
Freilich gibt es auch Väter, die nur auf das Doppelresidenz-Modell drängen, um ihrer Ex keinen Kindesunterhalt bezahlen zu müssen, wie es die Wiener Rechtsanwältin Katharina Braun im Alltag immer wieder erlebt. „Aber das ist natürlich kein Grund für die Einräumung der Doppelresidenz bzw. dass diese bei einer Nichteinigung der Eltern von der Familiengerichtshilfe dem Gericht empfohlen wird“, sagt die Juristin. In diesen Fällen werde geprüft, wie der Kontakt bisher gelebt wurde, die Kinder werden befragt, ebenso Kindergarten und Schule. „Väter, die viel mehr als ihre Ex-Gattinnen verdienen und Doppelresidenz beantragen möchten, frage ich immer, ob sie nicht zumindest ständige hohe Ausgaben wie etwa die Schulkosten für ihr Kind zur Gänze übernehmen möchten. Die Antwort sagt dann eh schon alles.“ Warnen möchte sie auch vor dem Versuch, ein umfangreiches Kontaktrecht zu erwirken, das mit den eigenen Karriereplänen gar nicht vereinbar ist.
Wie Frauen profitieren können
Im Optimalfall kann Doppelresidenz freilich ein wichtiger Beitrag dazu sein, dass Beruf und Familie für beide Elternteile vereinbar sind. Mütter können verstärkt einem Erwerb nachgehen und haben so auch einmal mehr Pensionsanspruch. Antiquierte Rollenbilder stehen dem nicht selten im Weg. Braun erzählt: „Immer wieder höre ich von Frauen, insbesondere im ländlichen Bereich, dass sie sich insgeheim zwar das Doppelresidenzmodell vorstellen könnten, aber Angst hätten, in den Augen der anderen als Rabenmütter zu gelten.“ Immer wieder falle in Beratungen von Frauen natürlich auch der Satz: „Ich kann es mir nicht vorstellen, mein Kind eine Woche nicht zu haben.“ Da sei es wichtig zu überlegen, was das Kind eigentlich will und was die Vorteile der Doppelresidenz sind. Hinzu kommt: Anträge auf Neuregelung des Kontaktrechts sind jederzeit möglich, da ist nichts in Stein gemeißelt. „Und mit 14 können Kinder ohnedies selbst über das Kontaktrecht bestimmen“, ergänzt Braun und warnt: „Spätestens da rächt es sich, wenn Eltern nicht eine Mindestkommunikationsbasis miteinander herstellen können. Man kann es nicht genug betonen: Auch wenn die Partnerschaft endet, bleibt man gemeinsam Eltern.“
Das rechtliche Dilemma
Das österreichische Paradoxon, dass Eltern, die sich bei der Scheidung auf ein Doppelresidenzmodell einigen, dennoch einen hauptsächlichen Wohnort für das Kind angeben müssen, bringt freilich einiges an Konfliktpotenzial mit sich: „Der Elternteil, bei dem das Kind den hauptsächlichen Aufenthalt hat, bekommt die Familienbeihilfe ausbezahlt und hat vor Gesetz die besseren Karten in der Hand, sollte es später zu einem Streit kommen – das ist einfach so“, betont Pototschnig. Damit werde von vornherein ein Ungleichgewicht geschaffen, das Eltern, die sich für die Doppelresidenz entscheiden, gar nicht wollen. „Paare mit zwei Kindern wählen als Ausweg aus dem Dilemma häufig die Lösung, dass jeder Elternteil den hauptsächlichen Aufenthalt für ein Kind beantragt“, wie Pototschnig erzählt. Das ist freilich mit dem Risiko verbunden, dass ein Richter das Doppelresidenz-Modell gar nicht akzeptieren muss, das Paar also zu einem anderen Gericht pilgern muss. Eine eindeutige gesetzliche Regelung fehlt in Österreich ja bis heute.