Und es hat klick gemacht. Auf Tinder hat das noch gar nichts zu bedeuten. Mehr als 30 Billionen Mal pro Tag kommt es angeblich zu einem Match. Zu einem, wenn man so will, doppelten Rechtswalzer. Während sich die Politik schon längst von der klaren Trennung zwischen links und rechts verabschiedet hat, lebt die Dating-App davon. Mit einem Smartphone-Wischer nach links werden potenzielle Kandidaten ins virtuelle Nirvana befördert, ein Wischer nach rechts eröffnet den Flirt. Zumindest in der Theorie. In der Praxis passiert nach einem Match nämlich oft: gar nichts.

Online-Dating ist ein emotionsloser Akt

Wischen in der Straßenbahn, in der Mittagspause, heimlich im Büro oder abends in der Badewanne – als ob man nach einer neuen Wohnzimmerlampe sucht. Oder einem Hotel-Schnäppchen. Algorithmen weisen auf potenzielle Kandidaten in einem bestimmten Radius hin. Wer zusätzlich zahlt, kann seinem Profil – und vor allem seinem Ego – einen Boost schenken oder sehen, wer einen gelikt hat. So wird der Flirt ohne Risiko zur sicheren Bank.
Tinder ist in den Generationen zwischen U20 bis Ü40 aus dem Dating-Verhalten nicht mehr wegzudenken. Jeder kennt irgendwen, der es nutzt oder nutzte. Die Ergebnisse: Von männlichen und weiblichen Abschleppern, Sexhungrigen bis zu ernsthaften Beziehungen ist alles dabei.

Online-Dater berichten

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D., 39 und Jurist, sah die App ganz unvoreingenommen als Chance für neue Kontakte. Frisch getrennt, wollte er sich „einen schönen Sommer machen“, wie er sagt. Er traf viele Frauen, jüngere, ältere, gleichaltrige. Frauen, die in seiner Heimatstadt wohnten oder solche, für die er auf Dienstreisen genau einen Abend oder eine Nacht lang Zeit hatte. Mit vielen hatte er Sex. Einmal, manchmal öfter. An einer Beziehung habe er gar kein Interesse gehabt. Trotzdem tummelte er sich auch auf anderen Online-Plattformen wie Parship. „Man weiß ja nie.“


Dort zahlte er dafür, dass man ihm möglichst passgenau Kandidatinnen ausspuckte, die seinen Vorstellungen einer perfekten Partnerin entsprachen. Auch dort traf er Frauen. „Unter anderem eine potenzielle Beziehungskandidatin.“ Das Problem: „Wir waren uns so ähnlich, dass es schnell fad wurde.“

Was das Internet, die ständige Verfügbarkeit und das Flirten im Online-„Warenhaus“ mit den Menschen macht, hat niemand präziser und schonungsloser seziert als die israelische Soziologin Eva Illouz. In ihrem Abschlussprojekt „Warum Liebe endet“ (Suhrkamp) rechnet sie mit dem Turbokapitalismus und der „Shopping“-Mentalität auf Tinder ab, wo man sexuelle Begegnungen „erwerben und auch wieder loswerden kann“. Das Angebot ist vielfältig und durch Codes gekennzeichnet: von ONS (One-Night-Stand) bis FWB (Friends with Benefits) bis zu LZB (also Langzeitbeziehungen) ist alles dabei.

Gelegenheit macht Sex

L., 31 und Lehrerin, reiste mit Tinder während eines Sabbaticals um die Welt. „Ich hatte viele schöne Dates zum Abendessen und traf Männer, die mir sonst nie begegnet wären“, erzählt sie. Um auf Nummer sicher zu gehen, schickte sie Adressen und Telefonnummern an eine Freundin. Sie hatte Gelegenheitssex. In ein Date hat sie sich auch verliebt. „Leider wurde nichts Langfristiges daraus.“

Die App des oberflächlichen Anbandelns


Seit sie von ihrer Reise zurück ist, verwendet sie Tinder weiter. Mittlerweile habe sie ein gutes Gespür für das unbekannte Gegenüber entwickelt und könne voraussagen, wer ihr noch vor dem ersten Date Nacktfotos schicke. Dass sie so einen Mann für eine Beziehung finden wird, glaubt sie nicht. Es entwickelten sich, erzählt sie, mehrere „schöne, aufregende Gspusis“. Aber: So schnell manche Männer in ihrem Leben auftauchten, so schnell waren manche auch wieder weg. Match aufgelöst, Kontakt blockiert. Ghosting, also das plötzliche Verschwinden einer Person in der Kennenlernphase, ist Alltag auf der App des oberflächlichen Anbandelns.


„Der Sex-, Liebes- und Heiratsmarkt verwischt den Unterschied zwischen Finanziellem und Nichtfinanziellem und kennt viele Formen: Gelegenheitssex, die Abschleppkultur, kurzzeitiges oder längeres Zusammensein, Zusammenleben, Ehe“, analysiert Illouz. „Die Kultivierung der eigenen sexuellen Attraktivität stellt eine Form der Markenbildung in eigener Sache für einen Markt dar, der so ökonomisch wie sexuell ist.“ Die Businesswelt gibt die Begrifflichkeiten vor: Jemand ist am Markt, jemand ist wieder vom Markt. Menschen werden gebraucht, benutzt, ausgemustert – wenn sich andere Optionen auftun. Die neue Unverbindlichkeit am unendlichen Markt der Möglichkeiten diene dem Selbstzweck, dem Hedonismus. Konsequenz: Beziehungen, die niemals so benannt werden, und enden, noch bevor sie angefangen haben.

Was sich verändert und was nicht

Die Paartherapeuten Sabine und Roland Bösel sehen Tinder und Co. weniger negativ. Das Davor und die Art des Kennenlernens haben sich vielleicht durch diese Möglichkeiten verändert, der Rest nicht. „Viele Leute schreiben, treffen sich und stellen dann fest, dass die Person vielleicht doch nicht der oder die Richtige für einen ist“, sagt Roland Bösel.


Das passiere noch lange, bevor man überhaupt von einer ernsthaften Beziehung spreche – frühestens nach sechs Monaten. Trotz aller Technologien wisse man aus der Glücksforschung, dass sich 80 Prozent der Menschen eine glückliche Beziehung wünschen. Und: „90 Prozent der Partnerwahl passieren sowieso unbewusst“, sagt Bösel. Sich zu verlieben kann also kein Algorithmus steuern oder verhindern. Viel wichtiger sei zu hinterfragen: „Was will meine Seele? Was ist meine Sehnsucht? Und will ich einen Menschen finden, der diese Sehnsucht stillt.“


D. hat sein Tinder-Profil übrigens gelöscht. Er flirtet wieder Face-to-Face. Denn: Augenkontakt, Stimme oder Geruch „erzählt einem das Herumgeschreibe über niemanden.