Herr Dr. Göttl, es ist normal, dass sich Jugendliche zurückziehen und auch einmal „zumachen“. Wie können Eltern erkennen, ob es sich um pubertäre Verhaltensweisen handelt oder ob sich eine Depression anbahnt?


Christoph Göttl: Jugendliche ziehen sich zurück, ganz nach dem Motto „wegen Umbau geschlossen“. Doch ich würde mir Sorgen machen, wenn sie plötzlich gar nichts mehr tun und über Wochen nur im Bett herumhängen. Das ist nicht normal. Der Rückzug ins Zimmer gehört zur Pubertät, der Rückzug ins Nichtstun nicht. Die Alarmglocken läuten sollten auch, wenn Jugendliche ihre Hobbys aufgeben und sich nicht mehr mit Gleichaltrigen treffen. Wenn es keinen konkreten Auslöser, Todesfall etc., gibt, sind bereits zwei Wochen mit diesen Symptomen auffällig.


Welche weiteren Anzeichen gibt es?
Göttl: Es können auch körperliche Symptome dazukommen, wie Schlafstörungen, Albträume, Kopfschmerzen oder Schmerzen, die im Körper einmal da, einmal dort sind. Dazu kommt oft Verzweiflung oder die quälende Sorge, krank zu sein. Depression macht auch aggressiv. Vor allem die männliche Depression drückt sich häufig so aus. Streiten ist „normal“, körperliche Attacken hingegen nicht. Bei Mädchen kommt oft auch körperliche Verwahrlosung dazu.


Was ist, wenn es mit den Leistungen in der Schule bergab geht?
Göttl: Jugendliche sind so mit innerem Umbau beschäftigt, dass ihre Energie zeitweise in andere Dinge geht als ins Lernen. Wenn sie aber lernen wollen und es geht nicht, dann ist das auffällig, denn an sich bleibt das Gehirn in der Pubertät gut leistungsfähig.


Was raten Sie Eltern in der Situation?
Göttl: Der erste Schritt sollte sein, mit dem eigenen Kind zu reden. Sagen, dass man sich Sorgen macht, und zuhören, was das eigene Kind erzählt. Manchmal gibt es nachvollziehbare Ursachen. Wichtig ist, zwischen Traurigkeit und Depression zu unterscheiden. Traurigsein infolge eines zuordenbaren Grundes ist heilsam. Bei einer Depression hingegen spürt man sich überhaupt nicht mehr, man wird gefühlstaub. Wenn dieser Eindruck entsteht, sollte unbedingt professionelle Hilfe geholt werden (siehe Infokasten).


Wann ist eine Therapie nötig?
Göttl: In leichten Fällen reicht auch eine Beratung aus. Wichtig ist, dass immer das Familiensystem mit einbezogen wird. Denn es ist eine falsche Idee, dass Stärke darin besteht, allein mit seinen Problemen zurechtzukommen. Gesunde Menschen haben Netzwerke. Gibt es diese nicht, ist das ein starkes Signal dafür, dass es Probleme gibt. Isolation auf Dauer führt fast immer zu psychiatrischen Störungen. Eine Therapie ist immer nötig, wenn die Depression mittel- oder schwergradig ist bzw. wenn Beratungen keine Besserung bringen.


Was passiert, wenn eine Depression nicht behandelt wird?
Göttl: Leistungseinbrüche, Schul- und Arbeitsverweigerung, Abbruch sozialer Aktivitäten, Streit und Auseinandersetzung bis hin zu Suizidimpulsen, nach außen gerichteten Aggressionen oder kriminellen Handlungen sind möglich.


Was können die Eltern tun?
Göttl: Wichtig ist, dass Eltern anerkennen, wie es ihrem Kind wirklich geht, und es nie mit seinem Problem alleinlassen. Das ist nicht immer einfach. Gerade wenn es um schulische Leistungen geht. Ab einer mittelgradigen Depression leiden Betroffene unter starken Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen. Auch wenn das Kind will, geht dann nichts mehr. Diesen Unterschied zwischen nicht wollen und nicht können zu akzeptieren und trotzdem nicht aufzugeben, ist eine Kunst.
Gibt es heute mehr Depressionen unter Pubertierenden als früher?
Ich glaube, ja. Warum das so ist? Es gibt mehrere Faktoren in unserer heutigen Gesellschaft, die eine Zunahme begünstigen. Erwiesen ist mittlerweile, dass mehr Bildschirmgebrauch zu mehr Depressionen führt. Fakt zwei: Infolge der industriellen Landwirtschaft fehlen wesentliche Nährstoffe in unserer Nahrung und dadurch Bausteine für den Organismus. Drittens: geänderte Familienstrukturen. Die Scheidungsrate steigt und Scheidungen können erwiesenermaßen psychiatrische Erkrankungen, also auch Depressionen, begünstigen. Zudem stehen Jugendliche heute häufiger isoliert da, weil sich niemand mehr zuständig fühlt.


Gibt es Jugendliche, die besonders gefährdet sind?
Göttl: Ein erhöhtes Risiko besteht, wenn es in der Vergangenheit oder Gegenwart des Jugendlichen Traumatisierungen (Gewalt, sexuelle Übergriffe, Vernachlässigung, psychische Grausamkeit, physische Vernachlässigung) durch Bindungspersonen gab oder gibt. Auch vorgeburtliche Traumata während der Schwangerschaft zählen dazu. Zweiter Risikofaktor: ein instabiles System. Bezugspersonen kümmern sich gar nicht mehr oder aber engen den Pubertierenden im Gegenteil zu sehr ein. Beides birgt massive Gefahren. Es gibt auch genetische Prädispositionen, aber davon allein wird keiner depressiv.


Welchen Einfluss hat Mobbing?
Göttl: Die Peergroup (Freunde, Schulkollegen etc.) spielt im Leben Pubertierender eine ganz wesentliche Rolle, sie ist ein zentraler Orientierungspunkt. Wenn von dieser Seite die Unterstützung fehlt bzw. im Gegenteil sogar Mobbing betrieben wird, dann hat das eine enorme negative Auswirkung. Diese neue Peergroup hat nämlich eine ähnlich starke Wichtigkeit wie die Eltern für ein Kleinkind.

Christoph Göttl, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psycho- und Traumatherapeut, Gründer der Bewegung NeuroDeeskalation, Katathym Imaginative Psychotherapie. www.kinder-jugendpsychiatrie.at