In einer Stresssituation reagiert jeder Mensch anders – manche essen mehr, andere nahezu gar nichts. Doch wird dieses Verhalten zur Routine und zum Zwang, könnte es sich um eine Essstörung handeln. Es beginnt oft mit einer plötzlichen Ernährungsveränderung. Dann werden jedoch Ausreden verwendet, man habe schon gegessen oder verheimlicht die Umstellung sogar. "Jemand, der wirklich eine Diät macht, erzählt davon", sagt Nina Baumgartner, Leiterin des LeLi-Tageszentrums für Essstörungen in Graz. Weite Kleidung, um das Untergewicht zu verheimlichen, sozialer Rückzug, ein extremer Fitnessdrang und Reizbarkeit beim Thema Essen können zusätzliche Hinweise sein.

"Schutzstrategie für emotionale Probleme"

Die Auslöser könnten nicht unterschiedlicher sein. Viele Betroffene haben eine komplexe posttraumatische Belastungsstörung. Das heißt, sie haben Bindungstraumatisierungen, also Verletzungen in der Kindheit zu den Bezugspersonen erfahren, wodurch kein adäquates und stabiles Selbstbild und Selbstwertgefühl entwickelt wurde. Alle haben das Gefühl gemeinsam, mit ihnen sei etwas falsch. "Deshalb versuchen sie sich so anzupassen, wie sie denken, dass andere Leute es richtig finden", weiß Baumgartner. "Die Essstörung ist eine hochfunktionale Schutzstrategie für emotionale Probleme."

Im Therapiezentrum beobachtet man, dass Anorexie-Patientinnen und -Patienten sich zunächst stark fühlen, wenn die ersten Kilos purzeln. Sie sind stolz auf die Disziplin, es gibt ihnen Kontrolle und Sicherheit. "Der Körper spielt eine Zeit mit, aber irgendwann gibt er auf." Bei der Bulimie hingegen schämen sich viele, der Leidensdruck sei höher, so die Leiterin. Viele leben jahrelang mit der Krankheit, doch niemand aus dem Umfeld weiß davon.

Nina Baumgartner, Leitung LeLi
Nina Baumgartner, Leitung LeLi © Marion Mayr

Instagram, TikTok, Snapchat

In den sozialen Medien gibt es Tausende Accounts mit Fitnesstipps, Rezepten und Selbstdarstellung. So beginnen sich nahezu alle miteinander zu vergleichen. Eine große Rolle spielen "What I eat in a day"-Videos (Englisch für "Was ich den Tag über esse"). "Richtig dünne Mädels zeigen, dass sie nur einen Apfel frühstücken. Ich vergleiche mein Essverhalten damit und denke mir 'Boah, ich esse so viel', dabei habe ich schon nicht viel gegessen", erinnert sich Johanna (23) aus Graz, die seit zwei Jahren ins LeLi-Zentrum kommt (zum Schutz der Privatsphäre wird der Nachname nicht genannt).

Das Gefährliche an Social Media ist heute vor allem die Reichweite und die ständige Verfügbarkeit: "Menschen haben immer Zugriff darauf. Sie können sich das die ganze Zeit anschauen. Ich habe Mädels kennengelernt, die gesagt haben, sie haben sich den ganzen Tag Essensvideos angeschaut und hätten sich 'satt gesehen' und essen selbst nichts mehr", sagt Nina Baumgartner.

Erschrocken war sie vor allem über "Pro Ana"-Accounts, welche innerhalb eines Tages Tausende Follower gewinnen würden: "Sie betrachten diese fiktive 'Ana', also Anorexie, als ihre Anführerin." Will jemand gesund werden und die Gruppe verlassen, werde sofort hinterfragt, ob man "Ana" jetzt wirklich im Stich lassen will. In ihrer Einsamkeit fühlen sich viele Betroffene dort verstanden und Teil einer Gruppe. "Gleichzeitig behauptet keiner, dass es ihm gut geht", sagt Baumgartner.

Viele Plattformen kennzeichnen Suchbegriffe im Zusammenhang mit Essstörungen bereits als sensiblen Inhalt. "Das ist es auch, aber es ist ein riesiges Thema. So viele Frauen haben damit zu kämpfen. Sie trauen sich nicht, darüber zu reden, weil sie das Gefühl haben, damit alleine zu sein", sagt Johanna.

TikTok
TikTok © Screenshot

Sie hat ihren Social-Media-Konsum stark reduziert und ist nur mehr auf Fitness- und Recovery-Accounts unterwegs. Jedoch sollte man laut LeLi-Leiterin auch diese mit Vorsicht genießen. Oft wird ein sehr ausgewähltes und zwanghaftes Essen als gut verkauft, was es oft nicht ist. Die Diätologin des Hauses würde eine ausgewogene Ernährung empfehlen.

Blick in die Zukunft

"Ich definiere meinen Wert aktuell total durch mein Gewicht – leider", sagt Johanna. Zwei ganze Mahlzeiten am Tag zu essen, ohne daran zu denken, doch nur die halbe Portion zu essen, um Kalorien zu sparen, sieht die Grazerin als Erfolg. "Da klopfe ich mir selbst auf die Schulter." In der Öffentlichkeit zu essen, fällt ihr immer noch schwer. Leichter fällt es in Buffet-Restaurants, wo sie die Größe der Portion selbst bestimmen kann.

Vor allem will sie, dass das Thema Essen nicht mehr so präsent ist: "Es wäre mir ein Herzensanliegen, dass ich es schaffe, mit dieser Stimme umzugehen." Sie träumt davon, Mutter zu sein. "Ein Kind ist aktuell nicht möglich, aber es ist ein Ansporn. Ich möchte gesund werden."

Betroffenen rät sie, sich Hilfe zu suchen und sich einzugestehen, dass man ein Problem hat. Das sei der erste Schritt. Dem schließt sich auch Nina Baumgartner an: "Es ist so viel leichter, wenn man nicht mehr alleine damit ist."

Mutausbruch
Mutausbruch © Marion Mayr