Hinweis: Dieser Artikel ist ursprünglich im Dezember 2020 bei Futter, dem jungen Magazin der Kleinen Zeitung, erschienen.
Trigger-Warnung: Wenn Sie das Gefühl haben, an einer Essstörung zu leiden und jemanden in diesem Zusammenhang zum Reden zu brauchen, kann man unter anderem hier Hilfe bekommen. Einen Leitfaden für Hilfe bei Essproblemen findet man hier.
Zimtsterne, Vanillekipferl, Lebkuchen – die Weihnachtszeit ist voll von süßen Verlockungen. Während sich die meisten Menschen darauf freuen, war es für Lisa – sie bloggt unter dem Namen My Café au Lait – lange nicht die schönste, sondern die stressigste Zeit des Jahres. Die 28-Jährige hat über Jahre hinweg an Anorexie gelitten. Heute sieht sie den Feiertagen gelassener entgegen und kann auch ihre Lieblingssüßigkeit Eis – sogar im Winter – genießen. Dennoch erinnert sie sich gut an das bedrückende Gefühl, das sie stets im Dezember ereilt hat. "An allen Ecken und Enden sind Versuchungen und generell weiß man, dass der Körper im Winter Reserven anlegt. Da habe ich mich immer sehr hineingesteigert", sagt Lisa.
Herausfordernde Zeit
Mit diesem Gefühl ist sie übrigens nicht alleine. "Diese Zeit ist mit Sicherheit herausfordernd. Klientinnen der Psychotherapie im Frauengesundheitszentrum beklagen einerseits die Versuchungen und damit den Kampf im Außen und im Inneren, den gefassten (Nicht-)Essensplan einzuhalten", bestätigen Felice Gallé, Mitglied der Geschäftsführung des Frauengesundheitszentrums, sowie Psychotherapeutin Beate Kopp-Kelter. "Anderseits erleben sie die wohlmeinenden Aufforderungen als problematisch, doch von den guten Keksen zu kosten und die beleidigten Blicke, die es bei Ablehnung auszuhalten gilt."
Tausende Kalorien
Alleine der Geschmack von Zucker oder ein Glas Punsch konnte bei Lisa damals eine Ess-Attacke auslösen. Wenn das der Fall war, dann gab es kein Halten mehr. Bei einem sogenannten Binge nahm sie tausende Kalorien in Form von Süßigkeiten und Fast Food zu sich. Sogar vor Gerichten mit Fleisch machte sie nicht halt. Und das, obwohl sie Pescetarierin ist, also kein Fleisch, sondern nur Fisch isst: "Der Tag nach einem Binge war das Allerschlimmste. Da habe ich meistens nur geschlafen, wollte niemanden sehen." Tendenzen zur Bulimie hatte sie zwar nie; doch sie griff auf andere Mittel zurück, um das aufgenommene Essen wieder loszuwerden. Mittel, auf die hier aus Rücksicht nicht weiter eingegangen wird. "Nach einem Binge habe ich mich immer auch geschämt, dass das überhaupt passiert ist."
Ihren Ursprung hat ihre Krankheit schon im Kindesalter genommen. "Gefühle habe ich oft mit Fasten kompensiert", sagt die gebürtige Weizerin. "Meine erste Diät habe ich mit zehn Jahren gemacht."
Diäten als Einstieg in eine Essstörung
Diäten sind häufig der Einstieg in eine Essstörung wie etwa Anorexie, das bestätigt man auch im Frauengesundheitszentrum: "Die Balance zwischen natürlichem Hunger- und Sättigungsgefühl wird gestört, die Diät gibt die Vorgaben, wann und wie gegessen wird. Eine Erkrankung sehen wir dann als gegeben, wenn sich die Gedanken der Frau häufig rund um das Essen beziehungsweise die Wahl des Essens drehen und den Tag bestimmen, also zum Hauptthema werden." Die Folge wäre die Vermeidung sozialer Kontakte und Unternehmungen, die nicht zu diesen Essritualen passen.
Bei Lisas Familie und Freunden blieb ihre Gewichtsabnahme nicht unbemerkt. Jedoch mussten Jahre vergehen, bis sich die Bloggerin ihre Krankheit eingestand. Wenn ihre Mutter sie auf ihr Gewicht ansprach, redete sich Lisa etwa ein, dass ihre Eltern aus einer anderen Zeit kommen, zu der es einfach noch nicht "in" war, dünn zu sein. Erst an einem schicksalhaften Tag im Jahr 2012 wurde auch für sie klar, dass sie Hilfe benötigte.
Zusammenbruch
"Ich bin plötzlich zusammengebrochen und war zwei Tage lang auf der Intensivstation", erzählt die Bloggerin. Gerade einmal 47 Kilogramm wog sie zu diesem Zeitpunkt – und das bei einer Größe von 1,73 Metern. Es folgte ein sechsmonatiger Aufenthalt im Krankenhaus, Therapie inklusive. Doch als sie nach einem halben Jahr mit leichtem Untergewicht wieder entlassen wurde, war das noch lange nicht das Ende ihrer Anorexie.
"Ich bin immer wieder in die Krankheit zurückgerutscht, weil es regelmäßig Auslöser gab. Zum Beispiel als mein Papa gestorben ist, oder wenn ich Liebeskummer hatte", sagt Lisa, die heute weiß, dass man lernen muss, mit emotionalem Schmerz umzugehen. "Es wird immer wieder vorkommen, dass einen etwas belastet. Man muss seine Gefühle anders kompensieren."
Anorexie bleibt nicht unvergessen
Auch wenn sie nun seit Jahren als geheilt gilt, so ist ihre Krankheit nicht unvergessen. "Ich hatte schon immer ein verzerrtes Bild von mir selbst und bis zu einem gewissen Grad wird mich das auch immer begleiten." Doch wenn sie alte Bilder anschaut, ist sie froh, dass ihr Leben heute anders ist. "Teils erschrecke ich mich, wenn ich mir denke, was ich meinem Körper angetan habe", sagt Lisa. Ihre Gedanken zu dem Thema teilt sie auch gerne auf ihrem Blog und auf Instagram. Und überhaupt gehört das Schreiben und Fotografieren zu ihren größten Leidenschaften.
An ihre Follower will sie folgende Botschaft weitergeben: "Don't die for a diet, also riskiert für eine Diät nicht euer Leben. Bei mir hat es damals auch mit einer Diät angefangen."
"Don't die for a diet"
Auch Gallé und Kopp-Kelter vom Frauengesundheitszentrum raten bei Diäten zur Vorsicht und Skepsis. Meist bringen solche Initiativen nur kurzfristigen Erfolg und könnten gar der Beginn der Anorexie oder einer anderen Essstörung sein. Hält man sich aus medizinischen Gründen an eine Diät, so müsse man auf jeden Fall mit einer Fachperson Rücksprache halten. Diäten gehen, so die Auskunft aus dem Frauengesundheitszentrum, oft mit ungesunden Körpernormen und dem Anspruch auf vollständige Kontrolle als Zeichen von Erfolg einher: "Der eigene Körper wird hier zum Projekt, für das hart gearbeitet werden muss und für das Opfer erbracht werden müssen, um sich Anrecht auf Glück zu erwerben. Wer das Ziel nicht erreicht, ist in dieser Logik selbst schuld. Bodyshaming erscheint damit als gerechtfertigt."
Lisa, die Diäten nun abgeschworen hat, blickt nicht nur der diesjährigen Weihnachtszeit, sondern auch der Zukunft generell optimistisch entgegen: "Ich weiß, ich bin noch jung und es gibt viel, was ich noch erreichen will."