Der erste Kuss, die erste gemeinsame Wohnung, die erste Krise, die man zusammen übersteht - in einer Beziehung gibt es viele erste Male. Einen ganz besonderen aber auch etwas ungewöhnlichen Meilenstein haben Abigail Angell und ihr Freund zu Weihnachten vor zwei Jahren gesetzt. Nach gut einem Jahr Fernbeziehung hat die US-Amerikanerin ihren Freund aus Graz zum ersten Mal offline getroffen. Im "richtigen" Leben.

Im wahrsten Sinne des Wortes klick gemacht hatte es bereits Monate davor beim Spiel "Dungeons & Dragons". Dabei handelt es sich - sehr simpel herunter gebrochen -  um ein Rollenspiel, bei dem man gemeinsam Fantasie-Welten erkundet und das Angell mit ihren Freundinnen und Freunden auf einer Online-Seite spielte. Schließlich stieß ein Spieler aus Graz hinzu. Wöchentlich tauchte die Gruppe in die Fantasiewelt ein. "Und bald schloss er sich meinen Freunden und mir auch bei anderen Spielen an, wie zum Beispiel 'League of Legends', 'Apex' und 'Overwatch'", so die 25-Jährige. "Ich hatte einen unüblichen Schlafrhythmus und er war in einer anderen Zeitzone. So haben wir oft gemeinsam gespielt, wenn die restliche Gruppe nicht online war." Im Laufe der Monate wurde während der Spiele auch geflirtet -  und aus Freundschaft eine Beziehung. 

Fernbeziehung ohne Treffen 

Gut ein Jahr lang waren Angell und ihr Partner also "Nevermets"; in einer Beziehung, ohne sich jemals in persona gesehen zu haben. Und mit diesem Umstand sind sie nicht alleine. Auf Online-Foren wie Reddit tauschen sich täglich tausende Menschen zu diesem Thema aus. Das Sub-Reddit "LongDistance", das sich Fernbeziehungen widmet, verzeichnet mehr als 686.000 Mitglieder. Nicht alle, aber ein beträchtlicher Teil der Userinnen und User weiß ähnliche Geschichten wie Angell zu erzählen.

"Wir haben uns vor sechs Monaten auf Reddit kennengelernt und sind jetzt keine ,Nevermets' mehr. Beste Woche überhaupt!", schreibt etwa ein Nutzer nach dem ersten Treffen mit seiner Partnerin. Eine andere Nutzerin musste gar 2,5 Jahre auf das erste Treffen warten.

Aber es gibt nicht nur Erfolgsgeschichten. In manchen Fällen handelt es sich bei den vermeintlichen Beziehungen um klassische Betrugsmaschen - ein Thema, von dem sich Angell nicht irritieren hat lassen: "Es ist schwer, eine Betrugsmasche durchzuziehen, wenn man monatelang videotelefoniert. Wenn man immer in Kontakt ist, ist das eher unwahrscheinlich."

Nach Monaten der Sehnsucht Schluss

Es gibt auf Reddit aber auch Beiträge, in denen Betroffene schildern, wie sie nach Monaten des Datings den Partner oder die Partnerin das erste Mal getroffen haben - nur um festzustellen, dass es keine physische Anziehung zwischen ihnen gibt. Ein Mann namens Jeremy (33) schreibt, wie er nach New Orleans geflogen ist, um seine Freundin (28), die er seit acht Monaten kennt, das erste Mal zu besuchen. Schon kurz nach der ersten Begegnung beendete sie die Beziehung. "Ich weiß, dass nichts garantiert ist. Aber wie kann es sein, dass sie mich bei Videocalls attraktiv findet und beim persönlichen Treffen nach 48 Stunden die ganze Anziehung weg ist?", fragt er die Reddit-Gemeinde. Die Antwort auf diese Frage hat er sich bereits selbst gegeben: Nichts ist garantiert.

Genau aus diesem Grund rät Parship-Sprecherin Katharina Hemmelmair in Sachen Online-Dating auch dazu, sich möglichst bald zu treffen. Parship-Nutzerinnen und -Nutzer scheinen von Fernbeziehungen generell weniger angetan zu sein. Hemmelmair verweist auf eine Befragung von 2011, bei der herauskam, dass Nutzerinnen und Nutzer die digitale Partnersuche im Schnitt auf 40 Kilometer einschränken. Zum Vergleich: Zwischen Graz und Angells Heimat Salt Lake City liegen fast 9000 Kilometer.

Doch in den elf Jahren, die seitdem verstrichen sind, hat sich einiges getan. Mittel der Vernetzung, die damals noch Nischenprodukt waren, gehören inzwischen zum Alltag - allen voran die Videotelefonie. Und im Falle von Angell geschah das Ganze unverhofft. Bei den Online-Meetings stand keineswegs die Partnersuche im Mittelpunkt, sondern Gaming. 

Das erste Treffen

Nach mehreren Monaten der Online-Beziehung setzte sich Angell im Dezember 2020 in einen Flieger, um nach Graz zu reisen - aber nicht ohne Sicherheitsvorkehrungen. Die Adresse ihres Freundes sowie ein Foto seines Führerscheins übermittelte sie vorab einer Freundin.

"Die Vorfreude war groß. Ich dachte mir, ich hab nicht viel zu verlieren aber alles zu gewinnen", sagt die 25-Jährige. In den Tagen davor bereitete ihr Partner leicht gestresst alles für ihren Besuch vor: "Wie ich ihn heute kenne, war er wahrscheinlich damit beschäftigt alles aufzuräumen." Und wie war die erste Begegnung? "Ironischerweise war die größte Überraschung für mich seine Stimme, die anders geklungen hat als am Telefon."

Die Anziehung war nach wie vor da und die Reise laut dem Pärchen ein voller Erfolg. Sie stärkte nicht nur die Beziehung, Angell verliebte sich auch in die Gegend. Bald war klar, dass sie zu ihrem Freund in die Steiermark ziehen und ihre Heimat verlassen würde. Ein Schritt, der laut einer anderen Parship-Studie für österreichische Singles nur bedingt in Frage kommt. "Die österreichischen Singles sind mit ihrer Heimat stark verwurzelt: Zwar wünscht sich die Mehrheit eine erfüllende Beziehung, aber die  wenigsten wären dafür bereit, ihre vier Wände aufzugeben", wird dort zusammengefasst. Nur 15 Prozent der Befragten könnten sich jedenfalls einen Umzug für die Liebe vorstellen. Für weitere 29 Prozent wäre es "unter gewissen Umständen" eine Option. 

Belächelt

Bis heute reagieren die Menschen in ihrem Umfeld überrascht, wenn sie erfahren, wie Angell ihren Freund kennen gelernt hat. Und: "Meine Mutter glaubt noch immer nicht, dass unsere Beziehung echt ist und bezeichnet meinen Partner als meinen ,Freund'." Und auch auf Reddit schreiben manche Nutzerinnen und Nutzer darüber, wie ihre Beziehung von anderen belächelt wird.

"Umzuziehen und so ein Risiko einzugehen, ist offenbar für Österreicher ungewöhnlicher als für Amerikaner", sagt Angell. "Ich musste nicht zwei Mal nachdenken." Der Rest ist Geschichte. Auch wenn sie traditionelle US-amerikanische Speisen wie Kürbiskuchen oder Makkaroni und Käse manchmal vermisst, ist sie in Graz mit ihrem Partner glücklich und lernt fleißig Deutsch. "Unsere Beziehung ist sehr solide und wir leben im Haus seines Vaters in der Nähe von Graz."