Als die beste Zeit ihres Lebens hat Sibel ihre Studentenjahre nicht abgespeichert. Statt Ausgelassenheit steht bei ihr Abgeschlagenheit an der Tagesordnung. Zermürbende Selbstzweifel rauben der 29-Jährigen jahrelang jegliche Leichtigkeit, im Kopf dreht sich ein nicht enden wollendes Gedankenkarussell.
Sibel leidet an Depressionen. Vor vier Jahren sind die zum ersten Mal aufgetreten. Da steckt sie gerade mitten im Studium. "Auf der einen Seite funktioniert man plötzlich selbst nicht mehr wirklich. Auf der anderen Seite hat man den Druck, dass man funktionieren muss."
Zwischen Erwerbs- und Leistungsdruck
Es ist aber nicht nur Leistungs-, sondern auch ein immenser Erwerbsdruck, unter dem Sibel steht. "Es war ein Zwiespalt. Wenn man sich gerade in einer Abwärtsspirale befindet, kann man es sich nicht leisten, dass zur Depression auch noch finanzielle Sorgen hinzukommen. Eigentlich will man nur gesund werden – aber man spürt den Druck von allen Seiten."
Ein Gefühl, dass die junge Frau nur allzu bekannt ist. Bereits als junges Mädchen lernt sie, Verantwortung zu übernehmen – nicht aber für sich und ihre Bedürfnisse, sondern für jene ihrer Mutter und ihrer Schwester. "Ich war in der Familie immer die, die funktionieren und für andere da sein musste." Dieses Funktionieren-Müssen hat sich Sibel so stark antrainiert, dass sie ihre eigenen Bedürfnisse ignoriert – obwohl sie innerlich längst spürt, dass etwas nicht stimmt. "Das ganze Verdrängen kam dann im Erwachsenenalter geballt hoch."
Verstärkt werden ihre Symptome durch die Doppelbelastung aus Nebenjob und Studium, bei dem eine Deadline die nächste jagt. Freizeit hat sie zu der Zeit kaum. "Das Studium fragt nicht, wie es einem gerade geht. Es war extrem schwierig, das irgendwie alles gleichzeitig zu stemmen."
Der Leistungsdruck nimmt zu, die Belastung ist groß für die junge Frau – bis es irgendwann nicht mehr geht. "2018 habe ich mich dann gar nicht mehr ausgekannt", erinnert sich die 29-Jährige zurück. "Mein Gehirn hat irgendwann einfach gesagt: Jetzt geht es nicht mehr. Es sind zu viele Tabs offen, mit so vielen Baustellen gleichzeitig kann ich nicht umgehen. Ich war zu nichts mehr in der Lage."
Jeder zweite Studierende mit psychischen Beschwerden
Wie viele Studierende österreichweit von Depressionen betroffen sind, ist in keiner Statistik festgehalten. Die jüngste Studierenden-Sozialerhebung des Sozialministeriums aus dem Jahr 2019 zeigt jedoch, dass Studierende immer häufiger von psychischen Beschwerden und stressbedingten Schwierigkeiten betroffen sind. 48 Prozent der befragten Studierenden gaben an, im bisherigen Studium durch psychische Beschwerden beeinträchtigt gewesen zu sein. Genannt wurden unter anderem ein mangelndes Selbstwertgefühl (23 Prozent), depressive Stimmungen (24 Prozent), Versagens- und Prüfungsangst (29 Prozent).
Auch bei der Psychologischen Studierendenberatung bemerkt man, dass sich die Themenschwerpunkte der geführten Beratungsgespräche stark verändert haben. Während 2018/2019 noch 50,3 Prozent der Beratungen dem psychischen Bereich zugeordnet wurden, waren es im Zeitraum 2020/2021 bereits 70,3 Prozent aller Gespräche, erklärt Michaela Freidl, stellvertretende Leiterin der Grazer Beratungsstelle.
"Wusste nicht, was meine Hobbys sind"
Nach ihrem Zusammenbruch erkennt Sibel, dass sie professionelle Hilfe braucht. Mit einem guten Freund, der selbst jahrelang mit Depressionen zu kämpfen hatte, kann die junge Frau über ihre Situation sprechen. Er ist es schließlich auch, der ihr den Kontakt eines Psychiaters weiterleitet.
Sibel begibt sich bei ihm in Behandlung: "Ich habe mir zu der Zeit selbst nicht mehr getraut." Bei ihrem Arzt kommt auch das Thema Antidepressiva auf, wovor sie zu Beginn großen Respekt hat. "Letztlich unterstütze ich damit meinen Körper und helfe meinem Gehirn, dass es so funktioniert, wie es funktionieren sollte." Die Medikamente helfen Sibel, Studium und Nebenjob trotz ihrer Depression weiter nachzugehen.
Außerdem beginnt sie eine Verhaltenstherapie, bei der sie langsam lernt, sich selbst kennenzulernen: "Vor der Therapie habe ich nicht gewusst, was meine Hobbys sind, was meine Bedürfnisse sind. Ich habe immer nur darauf geachtet, dass alle um mich herum happy sind."
Der Weg zum Therapieplatz
Sibel bezahlt ihre Therapie aus eigener Tasche. Es gibt allerdings auch kassenfinanzierte Therapieplätze, wofür die Österreichische Gesundheitskasse Verträge mit verschiedenen Partnervereinen abgeschlossen hat. "Über diese Vereine kann Psychotherapie als Sachleistung, das heißt auf Kosten der Krankenversicherung ohne eigene Zahlung, in Anspruch genommen werden", erklärt Marie-Theres Egyed von der ÖGK. Voraussetzung ist, dass ein psychisches Problem vorliegt, das als Krankheit anzusehen ist. Dafür bedarf es einer Untersuchung.
"Möchte man die Therapie bei einem Therapeuten oder einer Therapeutin ohne Kassenvertrag beginnen, so kann man einen Kostenzuschuss beantragen." Dieser beträgt aktuell 28,93 € pro Einheit. Wer während des Studiums persönliche Probleme hat oder sich in einer Studienkrise befindet, kann auch die Psychologische Studierendenberatung in Anspruch nehmen. Sie kann dabei unterstützen, Probleme in der Studienzeit zu bewältigen. Alle Angebote der Studierendenberatung sind kostenlos und können auf Wunsch auch anonym in Anspruch genommen werden.
Sich helfen lassen
Ihr Studium hat Sibel mittlerweile erfolgreich abgeschlossen. Anderen Betroffenen rät sie, sich anderen anzuvertrauen und nicht davor zurückzuschrecken, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen: "Wenn man selbst merkt, da ist schon so viel Nebel im Kopf, man kann das nicht mehr selbst sortieren und braucht Unterstützung, dann sollte man das auf jeden Fall annehmen."
Im Studium habe sie sich rückblickend viel Druck selbst gemacht, sieht sie heute. Anderen Studierenden mit Depressionen rät sie, "das eigene Tempo zu fahren, sich den Druck rauszunehmen. Wenn es jetzt nicht geht, versucht man es im nächsten Semester noch einmal." Man könne zwar nicht beeinflussen, ob Professoren verständnisvoll reagieren – je mehr darüber gesprochen wird, desto weniger sei es aber ein Tabuthema.
Video: Psychotherapie - Wie man an einen Therapieplatz kommt
Claire Herrmann