Der aktuelle europäische Adipositas-Report der
Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat vergangene Woche für
Schlagzeilen gesorgt. Wer an der wachsenden Misere etwas ändern
will, sollte auf langfristige Maßnahmen setzen, hielten dazu
österreichische Experten gegenüber der APA fest. Als erster Schritt
sollte der Mutter-Kind-Pass zumindest bis zum 18. Lebensjahr
ausgeweitet werden.
Adipositas bei Kindern: Wie man vorbeugen kann
"Für die Entstehung von Übergewicht gibt es im Kindes- und
Jugendalter vor allem zwei Phasen, wo es schnell gehen kann.
Zwischen dem vierten und sechsten Lebensjahr und dann vom zehnten
bis zum zwölften Lebensjahr. Man kann nicht warten, bis ein Kind 80
Kilogramm wiegt. Ich habe vor wenigen Tagen eine 17-Jährige gesehen
mit 110 Kilogramm. Es wird geschätzt, dass 80 Prozent der
Jugendlichen, die im Alter zwischen 14 und 16 Jahren übergewichtig
sind, dann auch als Erwachsene übergewichtig sind. Sie nehmen das
mit. Das 'wächst' sich nicht aus", sagte Kurt Widhalm,
jahrzehntelang Wissenschaftler auf dem Gebiet der Kinder- und
Jugendheilkunde mit dem Fokus auf Stoffwechselerkrankungen,
Ernährung und Adipositas.
Laut dem europäischen Adipositas-Report der WHO sind 54,3 Prozent
der erwachsenen Österreicher (61,8 Prozent der Männer und 46,8
Prozent der Frauen) übergewichtig oder adipös. 20,1 Prozent fallen
in die Kategorie der Adipösen (21,9 Prozent der Männer und 18,3
Prozent der Frauen). Für die bis zu Fünfjährigen lagen der
Weltgesundheitsorganisation aus Österreich keine Daten vor. Unter
den Fünf- bis Neunjährigen sind in Österreich 28,1 Prozent
übergewichtig oder adipös (31,3 Prozent der Buben, 24,8 Prozent der
Mädchen), die Adipositas-Rate liegt in dieser Altersklasse insgesamt
bei 10,5 Prozent (13 Prozent der Buben und 7,8 Prozent der Mädchen).
Auch bei den Zehn- bis 19-Jährigen ist das Problem groß: 25,8
Prozent der österreichischen Jugendlichen sind übergewichtig oder adipös (28,6 Prozent der Burschen, 22,9 Prozent der weiblichen
Jugendlichen), Adipositas trifft insgesamt 7,8 Prozent in dieser
Altersklasse (10,3 Prozent der Burschen, 5,1 Prozent der weiblichen
Jugendlichen).
Jugend-Gesundheitspass bis 18 Jahre gefordert
Für Widhalm ist zunächst einmal leicht nachvollziehbar, dass es
in dem Bericht an den Daten für die unter fünfjährigen Kinder in
Österreich mangelt: "Wir haben den Mutter-Kind-Pass. Den hat die
damalige Gesundheitsministerin Ingrid Leodolter (1974, Anm.)
eingeführt. Aber ausgewertet wurden die Daten noch nie."
Nach dem Mutter-Kind-Pass klaffe jedenfalls eine große Lücke.
Widhalm: "Bereits vor rund 15 Jahren wurde unter
Gesundheitsministerin Maria Rauch-Kallat (ÖVP) ein Gesundheitspass
für die Jugendlichen entworfen. Er wurde auch gedruckt. Aber
verwendet wurde er nicht." Die Aktivitäten seien an einem Streit
zwischen den Schul- und den Kinderärzten Österreichs über Prozedere
und Bezahlung gescheitert. "Wir brauchen einen
Jugend-Gesundheitspass bis 18 Jahre. Derzeit ist der nächste Schritt
dann die Stellungsuntersuchung. Sie trifft die jungen Männer. Und da
sind dann ein Drittel bereits krank, haben Übergewicht, sind
herzkrank oder haben andere Leiden."
Bereits im vergangenen Jahr wurde beispielsweise im Rahmen der
Praevenire Gesundheitstage im Stift Seitenstetten ein über viel
längere Zeiträume als die ersten fünf Lebensjahre laufender
"Präventionspass" gefordert. Erst vor wenigen Tagen formulierte dies
der Präsident der Praevenire-Initiative, der ehemalige
Sozialversicherungs-Hauptverband-Chef und Ex-Finanzminister Hans
Jörg Schelling, bei der Vorstellung der aktuellen Ausgabe des
Praevenire Weißbuch so: "Eine Forderung, wenn man das Ziel 'weg von
der Reparaturmedizin, hin zur Präventionsmedizin ernst nimmt', ist, dass man den Mutter-Kind-Pass zu einem lebensbegleitenden
Präventionspass ausgeweitet wird, zumindest aber bis zum 18.
Lebensjahr."
Maßgeschneidert an Altersgruppen herankommen
Auch Eva Höltl, Leiterin des Gesundheitszentrums der Erste Bank
AG, äußerte sich gegenüber der APA ähnlich: "Ich habe eine deutliche
Meinung dazu. Ich glaube persönlich, dass wir natürlich mehr
Vorsorge bei den Kindern und Jugendlichen benötigen. Wir sehen zum
Beispiel die Lehrlinge ab dem Alter von 15 Jahren. Deren
Gesundheitszustand ist kein ganz guter mehr. 15- bis 16-Jährigen
wird man nicht mehr mit einem 'Mutter-Kind-Pass' kommen können. Aber
wir sollten feststellen, für welche Altersgruppe welche
Gesundheitsvorsorge am wichtigsten ist und wofür es die beste
wissenschaftliche Evidenz gibt. Wenn es um Gesundheitsvorsorge geht,
muss man die Menschen in ihren Lebenswelten abholen." Das seien für
die Jugendlichen natürlich die Schulen, ihre Ausbildungs- und
Arbeitsplätze etc. Dann müsste man maßgeschneidert an die jeweilige Altersgruppe herankommen. "Ich finde die Idee eines Vorsorgepasses sehr schön", sagte Eva Höltl.
Frühes Erkennen von Problemen und entsprechendes Handeln kann
auch auf anderem Gebiet später jahrzehntelange Probleme verhindern
helfen. "Kinder- und Jugendorthopädie bedeutet an sich schon
Prävention", sagte vergangenes Jahr Catharina Chiari
(Universitätsklinik für Orthopädie und Unfallchirurgie/Wien) beim
Praevenire Gesundheitsforum in Seitenstetten. Das "orthopädische
Bäumchen" als Symbol der Kinderorthopädie als "junges Bäumchen, das
noch biegsam ist" sei hier höchst zutreffend. Fehlstellungen seien
"am besten am Tag nach der Geburt" zu diagnostizieren. "Langfristig
ließen sich auch Arthrosen und spätere Wirbelsäulendegenerationen auf diese Weise verhindern."
Engmaschigere Kontrollen gefordert
Eine engmaschigere Kontrolle durch Orthopäden sei jedenfalls für
Kinder und Jugendliche zu fordern. "Im Mutter-Kind-Pass haben wir
nur das Säuglingsalter abgebildet (zwei Hüftsonografien, eine
orthopädische Untersuchung; Anm.). Alle anderen otrhopädischen
Untersuchungen sind nicht verpflichtend", sagte Catharina Chiari.
Eine Kontrolle nach Gehbeginn, beim Schulkind eine Kontrolle vor
Schulbeginn und in der Adoleszenz präpubertär dann eine weitere
Untersuchung bei Mädchen (elf Jahre) und bei Buben (13 Jahre) sei
jedenfalls zu fordern.
Für Widhalm wäre das speziell auch bei dokumentiertem Übergewicht
extrem wichtig: "Die Betroffenen haben oft bereits im Kindes- und
Jugendalter Knieprobleme oder gar Knochenödeme durch die
Überbelastung. Die können auch gar nicht am normalen Turnunterrricht
teilnehmen." Bei Feststellung von Problemen, Kontrollen und
Gegenmaßnahmen könnte ein Präventionspass helfen. Das gelte auch für
die wissenschaftliche Aufarbeitung. "Mit Vergleichsgruppen kann man
leicht den Effekt überprüfen", sagte der Experte. Diese Themen
werden auch beim bevorstehenden diesjährigen
Praevenire-Gesundheitsforum (08. bis 10. Mai, Stift Seitenstetten;
www.praevenire.at) diskutiert werden.