Es braucht Gemeinsinn und zwischenmenschliche Solidarität, um gut durch Krisenzeiten zu kommen. Aber ist der Mensch überhaupt dafür gemacht? Sind wir genetisch nicht auf Egoismus, Verdrängung und Wettbewerb programmiert? Dieser Frage gehen Sie in Ihrem neuen Buch „Das empathische Gen“ auf den Grund. Die Antwort in Kurzform?
JOACHIM BAUER: Der Mensch ist zu beidem fähig, sowohl zu Egoismus und Rücksichtslosigkeit, als auch zu Empathie und Gemeinsinn. Das evolutionäre Erfolgsrezept des Menschen war der soziale Zusammenhalt. Mein Buch zeigt, über welche wunderbaren Werkzeuge unser Gehirn verfügt, damit wir uns in andere einfühlen können. Und dass wir unserer Gesundheit Gutes tun, wenn wir uns empathisch verhalten.

Hinter all dem stehen die Erkenntnisse eines noch sehr jungen Wissenschaftszweiges namens „Social Genomics“. Demzufolge beeinflussen wir durch unser Denken und unsere innere Einstellung auch unsere Gene. Das lässt sich wirklich beweisen?
Die vorliegenden Studien reichen in der Tat aus, um zu belegen, dass eine Sinn-geleitete, prosoziale Lebensweise einen günstigen Einfluss auf die Aktivität unserer Gene hat. Betroffen sind Gene, die im Körper eine schleichende chronische Entzündung erzeugen und dadurch das Risiko für verschiedene Erkrankungen erhöhen. Experimente zeigten, dass die Aktivität dieser Risiko-Gene sich vermindert, wenn man jeden Tag irgendeinem anderen Menschen eine kleine Freundlichkeit erweist. Eine andere Studie konnte zeigen, dass dies auch bei Menschen zu beobachten ist, die ehrenamtlich tätig sind, zum Beispiel als Schulpaten für Kinder mit Lernproblemen: Steve Cole, ein Pionier der Social-Genomics-Forschung, begleitete kalifornische Schulbegleiter, also Freiwillige, die Kindern von 8 bis 9 Jahren beim Lernen helfen, wissenschaftlich. Über ein Jahr wurde regelmäßig abgefragt und geprüft, wie sinnhaft sie ihr Leben empfinden und wie es um die Aktivität der Risiko-Gene steht. In der ganzen Gruppe zeigte sich eine Zunahme des Sinnerlebens und gleichzeitig eine Abnahme der Aktivität der Risiko-Gene.

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Es geht also nicht nur um die Grundeinstellung, sondern um eine gewisse Anzahl von guten Taten? Lässt sich das auch quantifizieren?
Das werden weitere Forschungen zeigen. Dieses neue Gebiet ist derart spannend, dass wir in den nächsten Jahren noch viel mehr als jetzt wissen werden. Ganz wichtig wäre es zum Beispiel, zu untersuchen, ob und wann eine empathische, prosoziale Haltung in Erschöpfung oder in ein Burnout umschlagen kann und wie sich das auf die Risiko-Gene auswirkt. Menschen, die anderen Gutes tun, sollten immer auch hinreichend gut auf sich selbst achten.

Wir reden hier aber nicht über Moralapostel und Tugendterroristen, sondern über Menschen mit einer besonderen Grundeinstellung?
Ein ethisch gutes Leben ist nur dann wirklich „gut“, wenn ich es freiwillig tue, aus einer Art innerer Liebe. Die Freiwilligkeit trennt die Tugend vom Tugendterror. Wir brauchen keine Moralapostel, die anderen sagen, wie sie leben sollen. Was wir brauchen, sind wissenschaftlich gesicherte Informationen, was unserer Gesundheit guttut und was ihr schadet. Wer sich um gutes soziales Zusammenleben mit seinen Mitmenschen bemüht, dient nicht nur seinen Mitmenschen, sondern darf davon ausgehen, dass er oder sie damit auch sich selbst etwas Gutes tut.

Ihre Botschaft lautet: Die große Mehrheit der Krankheiten, derentwegen Menschen eine Arztpraxis aufsuchen, ist nicht erblich bedingt. Das Erbgut ist eine Klaviatur, die auf unterschiedliche Weise bespielt werden kann. Besonders liebevolle karitativ tätige Menschen müssten dann aber auch besonders gesund sein? Und die „Bösen“ eher krank?
Nein, leider ist das nicht so einfach. Jede Krankheit hat immer viele Ursachen. Die innere Werte-Haltung, die prosoziale und empathische Einstellung eines Menschen ist nur ein Faktor unter mehreren Faktoren, die Einfluss auf die Aktivität der Risiko-Gene und auf unsere Gesundheit haben. Eine Erhöhung der Aktivität der Risiko-Gene kann nicht nur durch fehlende Prosozialität verursacht sein, sondern auch durch Umweltgifte, durch zu viel radioaktive oder ultraviolette Strahlung, durch ungesunde Ernährung, vor allem aber auch durch Tabakrauchen und Alkohol. Auf viele Faktoren, die uns krank machen können, haben wir Menschen keinen Einfluss, denken Sie nur an die Umweltverschmutzung und die Belastung von Lebensmitteln mit Pestiziden.  

Empathie erwirbt man allerdings dadurch, dass man im Kindesalter selbst Empathie erlebt. Dann ist die Chance verpasst?
Gott sei Dank Nein. Ein Mangel an empathischen Erfahrungen kann zu jedem späteren Zeitpunkt ausgeglichen werden, indem ich mich mit Menschen umgebe, die mich unterstützen und die mir emotional guttun. Leider erleben in unserer modernen Welt viele, vielleicht sogar die meisten Kinder nicht ausreichend viel Empathie. Denken Sie nur an Kinder in Familien, die in Armut leben, oder an Kinder, die - wie früher bei und oder heute in Syrien - einen Krieg erlebt haben, oder an Kinder, die schon früh arbeiten müssen.

Ihr Befund lautet, dass die Bereitschaft zur empathischen Anteilnahme an Mitmenschen seit 20 Jahren tendenziell global abnimmt. Woran liegt es? Und was ist Ihrer Ansicht nach das Gegenprogramm?
Tatsächlich sehen wir in den westlichen Ländern eine derart dramatische Zunahme der Einsamkeit, sodass zum Beispiel in Großbritannien sogar ein Einsamkeits-Ministerium eingerichtet wurde. Die Gründe für die immer stärkere Vereinzelung sind vielfältig. Einen sehr wichtigen unguten Beitrag leisten hier vor allem die sogenannten sozialen Netzwerke des Internets. Je mehr Stunden pro Tag Menschen in den sozialen Netzwerken verbringen, desto schlimmer entwickelt sich ihre seelische Gesundheit, desto stärker nehmen Depressionen zu. Was Menschen gesund hält, ist der reale Kontakt, das analoge wirkliche Zusammensein.

Das Internet sorgt für „emotionale Ansteckung“, eine Entkoppelung von Emotionalität und Personalität, das hat nichts mit Einfühlungsvermögen zu tun. Zugrunde richtigen wird das die Menschheit aber nicht, sagen Sie?
Das Internet hat viele wunderbare, sehr nützliche Seite, aber es kann, wie schon gesagt, auch einsam machen. Ein besonders negativer Effekt des Internets ist die Verbreitung von Aggressivität und Hass in den verschiedenen Foren und Chatrooms. Und dieser Hass hat eine ansteckende Wirkung auf andere, er trägt zum Zerfall einer Gesellschaft bei. Dem müssen wir entgegenwirken. Und ja, ich bin überzeugt, dass wir das auch können!

Was gibt dem Leben eine Wendung zum Besseren? Was löst nachhaltige Veränderungen aus?
Wir alle haben in jeder Phase unseres Lebens die Möglichkeit, unserem Leben eine Wendung zum Besseren zu geben. Das betrifft vor allem Menschen, die mit einer ernsten Diagnose konfrontiert sind. Ich bin Arzt, erkrankte Menschen liegen mir besonders am Herzen. Was mich bedrückt, ist die Art, wie die Schulmedizin mit Menschen kommuniziert, wenn eine ernste Krankheit aufgetreten ist. Viele Kollegen beschränken sich darauf, die möglichen medizinischen Behandlungen durchzuführen. Was sie vergessen, ist eine Ermutigung, die darin besteht, dass wir im Patienten etwas aktivieren, was ich den „inneren Arzt“ nenne. Jede Krankheit ist eine Chance, die eigene Lebensweise zu überprüfen, vor allem sich gesünder zu ernähren, sich mehr zu bewegen und schädliche Gewohnheiten zu beenden. Eine solche Umkehr ist alleine aber nicht zu schaffen. Für Veränderungen brauchen wir gute andere Menschen, die uns beistehen und unterstützen.