"Virus, hast du denn nichts aus der Evolution gelernt? Da haben wir Menschen gezeigt, dass wir verdammt gut darin sind, uns in schwierigen Situationen anzupassen. Wir werden dir zeigen, dass du dir den falschen Wirt ausgesucht hast." Dieses Zitat von Ihnen hat auch Bundeskanzlerin Angela Merkel im deutschen Bundestag verwendet. Haben wir es dem Virus gezeigt im letzten Jahr?
MAI THI NGUYEN-KIM:
Hätte, hätte, Fahrradkette. Im Nachhinein sind wir immer schlauer, oder? Ich habe schon im April in einem maiLab-Video gesagt, dass Corona gerade erst beginnt. Gefühlt sind wir nun, ein Jahr später, im letzten Stadium, aber dennoch ist den meisten klar, dass diese Pandemie noch länger dauern wird. Das Frustrierende ist aber: Der eigentliche Feind ist das Virus, wir alle sitzen im selben Boot und haben dasselbe Ziel. Aktuell streiten wir viel, etwa wieso Blumenhandlungen öffnen dürfen, aber andere Geschäfte nicht … die Gräben sind tief. Ich hoffe, wir vergessen im Endspurt nicht, dass wir einen gemeinsamen Gegner haben. Denn das wäre fatal.

Sie sind Chemikerin, Wissenschaftsjournalistin und Youtuberin - was haben Sie im letzten Jahr gelernt? Wie hat sich Ihre Arbeit verändert?
Die Arbeit ist noch aufwändiger geworden, auch weil mehr Aufmerksamkeit auf mich gerichtet ist. Schon von Beginn an haben wir für die Videos unseres Youtube-Kanals maiLab viel recherchiert. Das ist noch mehr geworden, weil wir keine Fehler machen wollen. Wir müssen komplexe Themen verkürzen und vereinfachen. Und wir verspüren den Druck der größeren Öffentlichkeit eben keine Fehler einzubauen. Es wird immer wichtiger, nicht nur die wissenschaftlichen Erkenntnisse zu kommunizieren, sondern auch den Weg dorthin. Wir müssen wissenschaftliche Vorgänge erklären. Studie ist nicht gleich Studie, und das müssen wir vermitteln.

Wir in Österreich erleben, dass sich Menschen nicht mit einem bestimmten Impfstoff impfen lassen möchten. Was läuft falsch in der wissenschaftlichen Kommunikation in Zeiten von Corona?
Im Grunde kann ich dieses Verhalten verstehen. Gerade bei dem Impfstoff von AstraZeneca wurde über jedes Zwischenergebnis, jedes Pre-Print berichtet. Allerdings zumeist ohne Einordnung der Erkenntnisse. Bei politischen Ereignissen sind wir Live-Ticker gewohnt, aber Wissenschafts-Journalismus eignet sich nicht wirklich zum Tickern. Das Problem ist, dass man Skepsis, die entstanden ist, nur äußerst schwer wieder zerstreuen kann. Das heißt, es war zum einen ein Fehler der Medien. Aber wir haben auch gesehen, dass es der Gesamtgesellschaft an den naturwissenschaftlichen Basics fehlt. Sind wir schon jemals zuvor beim Arzt gesessen wegen einer Impfung und haben ihn zuerst gefragt: „Von welchem Hersteller ist der Impfstoff und wie schaut es mit der Effektivität aus?“ Und wenn diese Pandemie dann vorbei ist, sollten wir diesen Mangel an wissenschaftlichen Basics nicht vergessen.

Wissenschaftliche Fakten sollten eigentlich eine gemeinsame Basis bilden. Was, wenn man sich aber nicht mehr auf diesen kleinsten gemeinsamen Nenner einigen kann?
Es gibt einen Unterschied zwischen wissenschaftlichem und gesellschaftlichem Konsens. Dass diese beide Dinge nicht dasselbe sind, ist vielen nicht bewusst und das führt zu Missverständnissen. In der Wissenschaft ist die Evidenzkraft der Daten ausschlaggebend: Unterschiedliche Methoden und Evidenzgrade ergeben ein Bild. Diesen Konsens gibt es auch in Bezug auf Corona, auch wenn es nur die Einsicht ist, dass es sich bei diesem Virus um ein sehr gefährliches handelt. Als Wissenschaftler kann man, wie etwa Sucharid Bhakdi, außergewöhnliche Behauptungen aufstellen, man muss aber auch die außergewöhnliche wissenschaftliche Evidenz liefern – die Beweislast liegt bei jenem, der dem evidenzgestützten Konsens widerspricht. In den Medien gilt diese Regel der Wissenschaft aber nicht, denn da ist jeder erst einmal interessant, der etwas anderes sagt und für einen „Sager“ sorgt.

Sie haben in einem Ihrer letzten Youtube-Clips sinngemäß gesagt: Achtung, Meinung. Wie schwierig ist es für sie als Wissenschaftlerin Meinung zu transportieren?
Komplette Sachlichkeit ist eine Utopie. Ich empfinde es als transparenter, meine Meinung auch mal zu teilen, ich werde sie aber immer begründen und von der Wissenschaft abgrenzen, damit sie nicht als Fakt wahrgenommen wird. Wir müssen andere Meinungen aushalten können, viel mehr als wir das aktuell tun. Wir können und sollen diskutieren und streiten, aber irgendwann müssen wir es aushalten zu sagen: „Let’s agree to disagree.“ Bei einigen Themen diskutiere ich aber auch nicht, dann wenn es einfach keinen Sinn hat. Was soll ich diskutieren, wenn jemand die Schwerkraft infrage stellt?



In ihrem neuen Buch fragen Sie: Wie politisch darf Wissenschaft sein? Wie unwissenschaftlich darf die Politik sein?
Sie dürfte gar nicht unwissenschaftlich sein. Man kann aber als Politiker auch gegen eine Expertenmeinung handeln. Ein Beispiel sind Kinder in der Corona-Pandemie. Auch sie können sich anstecken und das Virus weiterverbreiten, das wissen wir mittlerweile. Experten können dann sagen, aus diesem Grund sollten wir vorsichtig sein mit Schulöffnungen. Wenn der Politiker, die Politikerin dann sagt, das ist uns bewusst, wir öffnen aber dennoch, weil wir etwa den Druck von Eltern nehmen möchten, oder die Kinder wieder sozialen Anschluss brauchen, weil die psychischen Belastungen zu groß werden. In diesem Fall hätten sie ihre Entscheidung nachvollziehbar begründet. Wenn man stattdessen aber sagt "Kinder sind gar nicht so ansteckend" und damit wissenschaftliche Fakten für die eigene Politik verdreht, macht mich das wütend.

Wie können wir besser streiten?
Je besser wir uns zu Beginn der Diskussion auf einen gemeinsamen Standpunkt einigen können, desto besser können wir streiten. Es gibt etwas, das nenne ich den Debattenfehlschluss: Es ist überhaupt nicht spannend mit einem Querdenker zu diskutieren, ob ich von Angela Merkel gekauft bin. Ich weiß, dass das nicht stimmt und ich weiß, dass ich einen Querdenker davon aber nicht überzeugen werde können. In einer Diskussion geht es darum, den Konsens upzudaten, eine neue Erkenntnis zu erlangen oder eine besser Lösung für ein Problem zu finden. Fehlt eine gemeinsame Basis von Beginn an, wird sich das nicht ausgehen, denn es geht nicht ums Recht haben.

Wie sieht Ihre persönliche Realität aktuell aus?
Ich habe in meinem Umfeld einige Risikopatienten, einige sind schon geimpft, einige warten noch. Wenn diese ihre Impfung erhalten haben, dann werde ich erleichterter sein. Arbeitstechnische fühle ich mich sehr privilegiert. Wir bei maiLab können im Homeoffice arbeiten, wir haben einen Job.

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