Von Finnland über Tschechien bis nach Brasilien scheint aktuell ein ganzer SARS-CoV-2-Variantendschungel zu wuchern. Klar sei, dass sich der Virus-Stammbaum in etwa seit dem Spätherbst verstärkt in Varianten verästelt, die auch weiter vom Stamm weg reichen. Was diese gehäuften Veränderungen bewirken, sei jedoch kaum klar und schwer abzuschätzen. Man müsse wachsam bleiben, aber nicht quasi im Wochentakt in "Alarmismus" verfallen, sagte der Virologe Andreas Bergthaler zur APA. Die Hochkonjunktur des Begriffs "Variante" entstand um das Ende des Jahres mit der Erkenntnis, dass sich die "britische Variante" (B.1.1.7) nicht nur am Ort ihrer Entdeckung hurtiger verbreitete als der sogenannte Wildtyp des neuen Coronavirus. Dazu kam die Südafrika-Variante mit ihrer Bezeichnung B.1.351, die sich in Österreich vor allem in Tirol breitmachte. Gemein ist den beiden, dass sie in ihrem Erbgut tatsächlich gleich zahlreiche Veränderungen (Mutationen) gegenüber dem Ursprungserreger angesammelt haben.
Das Virus als Stammbaum betrachten
Bergthaler und sein Team am Forschungszentrum für Molekulare Medizin (CeMM) der Akademie der Wissenschaften (ÖAW) folgen der Entwicklung des Erregers schon seit Pandemiebeginn. Man könne das SARS-CoV-2-Virus als Stammbaum betrachten, der immer wieder Verästelungen gebildet hat - und zwar mittlerweile viele, denn inzwischen wurden mehr 500.000 Genome weltweit sequenziert. B.1.1.7 und B.1.351 könne man aber als Äste ansehen, die zumindest ungewöhnlich weit herausragen. Die britische Variante konnte nämlich erstmals sprunghaft mehr als 17 zusätzliche Mutationen in sich vereinen. Dazu kam, dass es im Spike-Protein zumindest eine Mutation gibt, die sich auch im unabhängig entstandenen B.1.351-Zweig findet.
Veränderung des Infektionsgeschehens entscheidend
Hier könne man recht einfach sagen, dass es sich um eine neue Variante handelt, so Bergthaler. Das sei aber nicht immer so klar und hänge auch etwas davon ab, wer sich hier an der Einordnung versuche. Dänische, finnische, brasilianische oder tschechische "Varianten" hin oder her - die entscheidende Frage ist letztlich, ob sie durch die Mutationsanhäufungen das Infektionsgeschehen verändern. Mutationen können das Virus leichter übertragbar machen oder dazu führen, dass es der durch eine Impfung aufgebauten, körpereigenen Abwehr besser entkommen kann (Fähigkeit zum "Immunescape"). Darüber hinaus könnte auch der Krankheitsverlauf bei Covid-19-Patienten beeinflusst werden. Letztendlich führt das dann zur politischen Frage, ob das Auftauchen zu gesonderten Eindämmungsmaßnahmen führen sollte, wie etwa in Tirol im Fall der Südafrika-Variante.
Wöchentliche Veränderung
Diese Sprünge in der Einschätzung einigermaßen rasch mit halbwegs gesicherten Daten zu begleiten, sei extrem schwierig, betonte Bergthaler. Die Praxis der Zuordnung der Varianten zu vermutlichen Ursprungsländer bedient zwar das von Menschen bevorzugte "Schubladendenken". Dabei ändere sich das Verbreitungsbild und die Zusammensetzung der Mutationen selbst eigentlich wöchentlich, wenn etwa eine Variante plötzlich irgendwo eine zusätzliche Mutation aufnimmt. Während das Sequenzieren zwar aufwendig, aber verhältnismäßig "relativ einfach" sei mit entsprechendem Team und Infrastruktur, ist es deutlich schwieriger, auf Basis von Laboruntersuchungen Aussagen zu Infektiösität und zum "Immunescape" zu treffen. Hier gebe es interessante Ansätze, wo in Simulationen neue Mutationen und -kombinationen und ihre möglichen Effekte schon vor dem Auftreten durchgespielt werden. In der Realität kommen aber verschiedenste weitere Einflussfaktoren dazu, erklärte Bergthaler: "Neben Experimenten im Labor braucht es nicht zuletzt solide epidemiologische Daten, und die benötigen Zeit."
Warum seit Herbst 2020?
Auch daher sollte man vorsichtig mit dem Läuten der Alarmglocken sein. Bergthaler: "Man könnte sicher jede Woche einen neuen Zeitungsartikel über irgendeine Variante schreiben, die irgendwo gefunden wurde." Die interessantere und noch unbeantwortete Frage sei aber, warum solche Mutationshäufungen vor allem seit dem Herbst 2020 auftauchen.
Ein aktuelles Beispiel ist die "tschechische" Variante (B.1.258), die bekannte Mutationen aufweist, aber etwa auch eine neue Veränderung an Position "N439K" des Spike-Proteins hat. Diese Mutation sehe man auch in Österreich seit Jänner "in erstaunlich hoher Anzahl", so Bergthaler: "Das ist eine Mutationskonstellation, die offensichtlich sehr erfolgreich ist." Man finde diese auch in Abwasserproben. "Alarmistisch muss uns das nicht stimmen. Ich glaube aber, dass es noch sehr hilfreich sein wird, wenn wir möglichst in Echtzeit verstehen, was denn rund um uns zirkuliert." In Österreich habe sich in den vergangenen Wochen zum Glück sehr viel punkto Monitoring weiterentwickelt, sagte der Forscher.
Gesamtzahlen stark drücken
Aktuell zeige sich weiter, dass die britische Variante vor allem im Osten des Landes im Vormarsch ist. Im Westen würden Abwasserproben mittlerweile jedoch auch schon höhere B.1.1.7-Anteile aufweisen. In Tirol sei noch nicht vollständig klar, wie gut die Ausbreitung von B.1.351 zumindest regional eingedämmt wurde. Alle Fragezeichen um die Mutationen würden jedenfalls deutlich zeigen, wie wichtig es ist, die Gesamtzahlen stark zu drücken, betonte Bergthaler: "Egal, welche Variante am Ende des Tages dahinter steckt."