Auf der sechs Kilometer langen Strecke von Cervignano nach Torviscosa lässt sich unschwer erkennen, wie die Gegend vor hundert Jahren ausgesehen hat: Sümpfe, Brackwasser, Schilfgürtel so weit das Auge reicht. Die einzigen „Bewohner“ damals: Stechmücken, deren weibliche Nachkommen die Malaria übertragen. Und dann, inmitten dieser Landschaft, gewaltige Backsteingebäude, die sich neben- und hintereinander auftürmen, nur übertroffen vom für die italienischen Ebenen typischen Wasserturm. Nach dem Überqueren der Bahnlinie Cervignano–Venedig ist man mittendrin. Den ersten Parkplatz beim Centro Informazione Documentazione (CID) – es empfiehlt sich, dieses am Ende des Rundgangs zu besuchen – nutzen und den Rest zu Fuß machen.

Zurück in die Vergangenheit

Die kleine Retortenstadt aus den 30er-Jahren des vorigen Jahrhunderts bleibt überschaubar. Während sich im Osten der gesamte Industriekomplex erstreckt, kommt man westlich, über die Viale Villa, ins Zentrum von Torviscosa. Und es wird von Beginn eine Reise in die unmittelbare Vergangenheit des Friaul. Gewaltige Keramik-Blumenvasen und Köpfe diverser „Persönlichkeiten“ des italienischen Faschismus säumen den Weg der Prachtallee, an deren Ende das Sportzentrum für die damaligen Fabriksarbeiter liegt. Dazwischen: Architekturgeschichte vom Feinsten.

Architekt Franco Marinotti entwickelte die „autarke“ Stadt
Architekt Franco Marinotti entwickelte die „autarke“ Stadt © viennaslide / picturedesk.com
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Im einst malariaverseuchten Sumpf

Der Komplex, von den Fabriksgebäuden bis zu den Reihenhäusern der Arbeiterfamilien, wurde mitten in den malariaverseuchten Sumpf „gesetzt“. Das Ziel der in Rom auf dem Reißbrett von Architekt Franco Marinotti entworfenen Stadt war die nachhaltige Besiedelung der Bassa Friulana und die Produktion von Cellulose aus Pflanzenfasern. Praktischer Nebeneffekt: die Reduktion der Malaria. Tatsächlich ausgerottet konnte diese in unserem Nachbarland erst 1964 werden.

Knapp 3000 Menschen leben noch hier

Auch wenn heute nur noch knapp 3000 Menschen in Torviscosa leben (in den Anfangsjahren waren es 20.000), die „Musterstadt“ verkam in den letzten hundert Jahren niemals zu einem Museum. Die „Perfektion“ der Anordnung der Zweckgebäude und Freizeiteinrichtungen ließ Torviscosa immer reizvoll bleiben. Die Reihenhäuser für die Familien waren seinerzeit allen anderen vergleichbaren Einrichtungen Italiens weit voraus. Die einfachen Abläufe und die Kürze der Wege – alles Alltägliche konnte zu Fuß erreicht werden – von der Fabrik nach Hause, von zu Hause zu den Freizeiteinrichtungen und Geschäften, alles wurde den Menschen leicht gemacht, nichts dem Zufall überlassen. Sich dem „hinzugeben“, fällt leicht, eine Reise in die Vergangenheit inbegriffen.

Es muss hier einst wie das Paradies gewirkt haben

Über die eingangs erwähnte Viale Villa – deren künstlerisches „Beiwerk“ nicht übersehen werden kann und, im Positiven und Negativen, den damaligen Zeitgeist anschaulich macht – kommt man zum arenaartigen Sportzentrum. Von dort, über die Via Italo Svevo (trotz seiner deutschen Herkunft gilt Svevo als führender italienischer Romanautor) und die Via Vittorini gelang man ins eigentliche „Lebenszentrum“ der ehemaligen Retortenstadt. Mit Rathaus, Kirche, Reihenhäusern und den ganzen infrastrukturellen Einrichtungen. Hier spielt sich, eingerahmt von Grünflächen und Parkanlagen, seit rund hundert Jahren „das Leben der Menschen“ ab. Immer noch beeindruckend, muss es für die ersten Bewohner in den Dreißigerjahren wie das Paradies gewirkt haben. Das in den Sümpfen zum Überleben notwendige Chinin gab es anfänglich in den Tabakläden sogar kostenlos. Und mit den Freizeiteinrichtungen erhielten die Arbeiter in der Cellulose-Fabrik „Brot und Spiele“ auf dem Silbertablett serviert. Wenn die Backsteingebäude der riesigen Fabrik erzählen könnten, wären es vor allem Geschichten des italienischen Konzerns SNIA.

Es sind auch und vor allem „Sittengeschichten“. Das Unternehmen, das vor knapp 100 Jahren die Stadt entstehen ließ und all die Jahrzehnte auch Eigentümer war, verlor aufgrund hoher Schulden und undurchsichtiger Finanztransaktionen im September 2008 den Standort Torviscosa. Wenn man nach dieser historischen Reise durch ein „lebendiges“ Museum wieder am Ausgangspunkt angelangt ist, wartet noch das Centro Informazione Documentazione auf die Besucher. Die gebotenen Informationen ergänzen die Bilder des Rundgangs auf anschauliche Weise. Willkommen in der Gegenwart.