Krise am Küchentisch: Kind X, nennen wir ihn Lukas, gehört zur heiklen Sorte. Weder Obst noch Gemüse kommen ihm auf den Teller. Seine Leibspeise? Nudeln ohne alles – am liebsten täglich. Die Eltern von Lukas sind verzweifelt. Aber ab wann soll man sich wirklich Sorgen machen?
„Wenn das Kind aufgrund seines Essverhaltens körperliche Mangelerscheinungen bekommt“, sagt die Kinderärztin, Psychotherapeutin und Gründerin der Grazer Esslernschule „No Tube“, Marguerite Dunitz-Scheer. Laut der Expertin für Kinder mit schwierigem Essverhalten bestünde Handlungsbedarf auch dann, wenn das Kind soziale Probleme entwickle. „Zum Beispiel, weil es wegen seiner Ernährungsform gehänselt wird.“ Dadurch könne ebenfalls großer Leidensdruck entstehen.
Ernährung als Hauptsinn der Erziehung
Aus der Praxis weiß sie allerdings, dass viele Problemfälle in Wirklichkeit Symptome unserer Überflussgesellschaft sind: „Das Problem ist, dass manche Eltern die ‚richtige Ernährung‘ zum Hauptsinn ihrer Erziehungsaufgabe gemacht haben. Für Menschen in Überflussländern wurde Ernährung in den letzten Jahren zum Religionsersatz.“ Bei vielen Eltern entstünde dadurch der Druck, den Nachwuchs so zu ernähren, wie es das „gesellschaftliche Diktat vorschreibt“. Doch wer bei der Ernährung seiner Kinder nur interveniert und kontrolliert, erreiche laut Dunitz-Scheer oft das Gegenteil. Essen wird zum Kampf, die Lust geht verloren.
Das bestätigt auch eine aktuelle Studie der „University of Michigan“. Das Team um Megan Pesch fand heraus, dass es die heikelsten Esser dort gibt, wo der Druck, das Richtige zu essen, hoch war und weniger gesunde Lebensmittel beschränkt oder verboten waren. „Wir haben festgestellt, dass Kinder wählerischer waren, deren Mütter von vielen Einschränkungen bei ungesundem Essen und Süßigkeiten berichteten“, so Pesch zu ihrer Analyse.
Wer essen lernt, wird schmutzig
Haben wir also die Normalität beim Essen verloren? „Nicht nur beim Essen selbst“, sagt Marguerite Dunitz-Scheer und kritisiert, dass Kindern aus Reinlichkeitszwängen nicht zugestanden wird, mit allen Sinnen die Welt zu begreifen und dadurch essen zu lernen. Das heißt: Wer essen lernt, wird schmutzig. „Dass kleine Kinder ihr Essen angreifen wollen und daran riechen, gehört zur normalen Entwicklung und ist ein zutiefst menschliches Bedürfnis.“ Zum Beispiel um zu kontrollieren, ob die Mahlzeit essbar, schon verdorben oder gar giftig ist.
Müssen wir aufhören, Anpassung als Ziel zu sehen? „Ein Kind will sich manchmal nicht anpassen“, so Dunitz-Scheer. Warum also nicht dem Kind seine Spezialität für ein paar Wochen gönnen? „Solche Phasen gehen schneller vorbei, wenn sie nicht jedes Mal kommentiert werden. Solange das Kind weiterhin fit und fröhlich ist, ist das kein Problem.“
"Diesen Kindern stinkt die Welt"
Säuglinge und Kleinkinder mit schwierigem Essverhalten werden bei der „No Tube“-Physiotherapeutin Eva Kerschischnik, vorstellig. Sie begibt sich gemeinsam mit den Eltern auf Ursachensuche und stellt dabei viele Fragen: Gibt es ein medizinisches Problem? Wer macht sich Sorgen – die Mutter oder der Kinderarzt? Hat das Kind Allergien? Welche Produkte isst das Kind und vor allem wie isst es? Ernährt es sich nach einem strikten Plan oder muss es aufessen, obwohl es keinen Hunger mehr hat? „Die Gründe warum Kinder sich beim Essen verweigern, sind ebenso vielfältig wie die Kinder selbst“, sagt Eva Kerschischnik.
Heikel sind mitunter auch jene Kinder, die unter Hyperempfindlichkeiten leiden. Etwa, weil sie olfaktorisch sehr sensibel sind und Gerüche intensiver wahrnehmen als der Durchschnitt. Diesen Kindern stinkt die Welt. Reize werden gesteigert wahrgenommen – jede Küche, in der gekocht wird, wirkt geruchstechnisch überfordernd. Das trübt auch die Freude am Essen selbst.
Für die Expertin ebenfalls wichtig sind die Kapitel Sensorik und Körperwahrnehmung. „Wenn sich ein Kind körperlich nicht spürt, gibt es Probleme bei der Bewegung. Das wirkt sich auf den Körper im Allgemeinen aus. Und dadurch auch auf den Mund.“
Falsche Erwartungshaltungen minimieren
Kerschischnik lässt Eltern im Rahmen der Behandlung die drei wichtigsten Ziele definieren. Wobei das wichtigste Ziel lautet, den Druck aus der Essenssituation zu nehmen und den Eltern zu sagen „Alles ist gut. Machen Sie sich keine Sorgen.“ Denn oft reiche es schon aus, den Eltern zu versichern, dass sie ein gesundes Kind haben. Denn in der Regel sei nicht das Kind das Problem, sondern falsche Erwartungshaltungen.
Katrin Fischer