Die aktuelle Krise dauert gerade einmal zwei Monate. Wie haben Sie es geschafft, jetzt schon ein Buch über das Leben nach Covid-19 herauszubringen?
MARTINA LEIBOVICI-MÜHLBERGER: Ich muss zugeben, das Thema hat in mir gegärt. Schon vor zwei Jahren habe ich ein Buch geschrieben, in dem ich dargelegt habe, dass wir einen neuen Zugang zur Erziehung und zum Zusammenleben brauchen, um einen Homo sapiens socialis wachsen zu lassen. Für mich war klar, dass ein Punkt kommen wird, an dem alles kippen wird. Ich hatte ihn nicht in Form einer Pandemie erwartet. Am Wochenende vor dem Shutdown bin ich dann durch das leere Wien spaziert. Im Fernseher eines Schaufensters sind die Werbungen für Kreuzfahrten gelaufen. Und man hat das Gefühl gehabt: Das ist ein Wahnsinn, das ist Vergangenheit, wir sind im Day After.Zu Hause habe ich mich dann hingesetzt und drei Tage lang durchgeschrieben.

Inwiefern ist die aktuelle Krise auch eine zivilisatorische Krise?
LEIBOVICI-MÜHLBERGER: Diese Krise bringt vielen Menschen unglaubliches Leiden und viele Kollateralschäden, über die wir gar nicht sprechen. Beispielsweise in Lateinamerika trifft es die Ärmsten, die unerkannt und unbemerkt sterben. Ihnen raubt die Krise auch ihre Existenzgrundlagen. Und daran werden wieder Tausende sterben.

Wie können wir mit diesen langfristigen Schäden umgehen?
LEIBOVICI-MÜHLBERGER: Es tut mir sehr weh, dass die Menschheit durch ein derartiges Leiden gehen muss. Aber gerade deswegen, glaube ich, schulden wir es diesen vielen namenlosen Opfern, dass wir die Botschaft der Krise ernsthaft reflektieren und dass wir ihr Potenzial auch wirklich bewusst erheben und zur Anwendung bringen. Die Krise wird zur Nagelprobe der liberalen Demokratien. Das ist nicht nur eine biologische Krise, sondern es ist auch eine ideelle Krise.

Wie kann eine solche Krise zu einem Umdenken führen?
LEIBOVICI-MÜHLBERGER: Das haben wir schon bei Ereignissen wie dem Reaktorunglück von Tschernobyl gesehen. Dadurch haben wir unsere Haltung als Menschheit zur Atomkraft neu definiert. In Österreich war ab dort für alle Regierungsparteien klar: Österreich hat nichts mit Atomenergie am Hut. Weil wir die Gefahren gemeinsam als Kollektiv begriffen haben. Covid-19 ist hierbei noch viel unmittelbarer. Es ist kein Ereignis, das irgendwo auf der Welt stattfindet. Es betrifft uns alle hautnah.

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Wie könnte unsere Lebensrealität nach der Krise aussehen?
LEIBOVICI-MÜHLBERGER: Ich sehe zwei mögliche Konzepte. Das eine ist geprägt von Misstrauen. Die Lösung präsentiert sich in Form eines Chips zur Überwachung. Er misst die Körpertemperatur und meldet sich, wenn jemand Fieber hat. Vielleicht hat man einen Balken am Handy, der grün sein muss, damit man von einem Bezirk in den nächsten kommen kann. Ein gesellschaftliches Leben gibt es nur dann, wenn du keine Gefahr für die anderen bist. Also der Kontrollstaat, der sagt: Die Menschen sind einfach gefährlich füreinander. Ich hab eine humanistische Erziehung erhalten und kann mit dieser Vorstellung gar nicht leben.


Was steht dem gegenüber?
LEIBOVICI-MÜHLBERGER: Dieses Konzept ist vergleichsweise einfach und heißt: Wir sind radikal sozial. Es gibt kein Säugetier, das so sozial ist wie der Mensch. Wir sind sogar in unserer Biologie so aufgebaut, dass wir Bindung und Beziehung zu anderen nicht nur haben wollen, sondern auch brauchen, damit auch bis hinein in die Neurotransmitterchemie alles gut funktioniert. Wir brauchen einander, damit wir gesund sind – in einem umfassenden Sinn. Als Gemeinschaft und nur als Gemeinschaft konnten wir vieles bewältigen, was uns sonst ausgerottet hätte. Außerdem sind wir kreativ, lösungsorientiert und voller Neugierde. Als Gesamtzivilisation hat uns das dorthin geführt, wo wir heute sind.

Wie können wir das nutzen?
LEIBOVICI-MÜHLBERGER: Man muss den Lösungsansatz wählen, den der Mensch schon immer gewählt hat: Gemeinschaft, Kooperation und Kreativität. Es gibt eine Menge Menschen, die dieses Gedankengut schon vor Covid-19 aufbereitet haben. Diese haben auch schon tolle Ideen, wie man die Welt umgestalten kann. Wenn wir nicht in den wohlwollenden Kontrollstaat verfallen wollen, müssen wir uns jetzt statt linearen Denkens ein disruptives Denken zutrauen.


Was nehmen Sie für Ihren Alltag mit?
LEIBOVICI-MÜHLBERGER: Mir ist aufgefallen, wie wichtig sozialer Kontakt und die Umarmung der Menschen, die ich lieb habe, für mich sind. Früher habe ich das einfach gehabt und ich habe gar nicht wahrgenommen, wie zentral das für mich ist. Und jetzt ist es für mich auch ganz stark wieder spürbar geworden, dass das eine ganz hohe Qualität hat.