Sie haben selbst über insgesamt 17 Jahre zwei gewalttätige Beziehungen durchlebt – zuerst mit einem prügelnden Ehemann, dann mit einem, der hauptsächlich verbal und mental gewalttätig war. Ihr neues Buch entlarvt das Problem häusliche Gewalt als ein gesellschaftliches, nicht individuelles. Familie und Freunde waren Ihnen keine Hilfe?

ANTJE JOEL: Meine Eltern würden das sicher anders sehen, sie würden mir sicher sagen, dass sie mir geholfen haben. Aber die Botschaft war immer nur: „Ja, wenn du das mit dir machen lässt...“ Aber das alles war dominiert von ihrem Unverständnis und ihrem daraus resultierenden Ärger – auf mich. Ein Grund dafür war sicher auch ihre eigene Hilflosigkeit.

Bleiben nur schwache Frauen bei prügelnden Männern?

ANTJE JOEL:Ganz und gar nicht. Die WHO beschreibt häusliche Gewalt als soziales Problem von epidemischem Ausmaß. Das kann nicht an einzelnen Persönlichkeiten liegen. Studien finden auch keinerlei Zusammenhang zwischen dem Wesen einer Frau und ihrem Risiko, an einen Gewalttäter als Partner zu geraten. Wenn Sie sagen, das sind alles graue Mäuse, denen das passiert, dann blicke ich auf Tina Turner oder Nina Simone. Das kann ja wohl nicht unser Ernst sein? Ich habe als Freiberuflerin den Lebensunterhalt für acht Personen verdient, für meinen Mann und sechs Kinder, indem ich um die Welt gereist bin und Geschichten recherchiert habe. Das hat nichts Unselbstständiges. Das ist nicht klein, das ist nicht schwach. Wie Gewaltbereitschaft entsteht.

Ich weiß, dass die Frage Sie empört, trotzdem stelle ich sie: Warum bleiben Frauen bei diesen Männern?

ANTJE JOEL: Wir fragen seit 40 Jahren, seit wir begonnen haben, uns mit dem Problem überhaupt zu befassen, immer das Gleiche: Was ist mit den Frauen los, dass sie bleiben? Kein Mensch fragt: Was ist eigentlich mit den Männern los? Und was ist mit unserer Gesellschaft, die mit ihrer eigenen Aversion gegen Frauen und ihrem Verständnis für diese Männer sie immer wieder entlastet und ihre Gewalt begünstigt?

Aber Sie wurden ja nicht eingesperrt und angekettet?

ANTJE JOEL: Doch, ich wurde eingesperrt, das ist eine psychologische Geiselhaft, in die der Täter das Opfer nimmt.

Damit das funktioniert, muss was zusammenkommen?

ANTJE JOEL: Traumatische Bindung, sagt Ihnen das etwas? Stockholm-Syndrom. Wenn Sie sich als Mensch in einer lebensbedrohlichen Situation befinden und von einem Mann oder überlegenen Partner zusammengeprügelt werden, ist das lebensbedrohlich. Wenn Sie das erleben, trifft ihr Gehirn im Bruchteil einer Sekunde eine Entscheidung zwischen fünf möglichen Reaktionen. Drei davon sind aktive Reaktionen: fliehen, kämpfen oder den Täter zum Freund zu machen. Wenn das Gehirn mit der Reaktion, die es gewählt hat, Erfolg hat, wird es sie wiederholen und daran festhalten. Und Erfolg definiert sich in dieser Situation nur als Überleben.

Für Liebe haben Sie das alles aber nicht mehr gehalten?

ANTJE JOEL: Ich glaube schon, dass ich es dafür gehalten habe. Es weiß ja keiner von uns, was Liebe ist. Aber ich bin sehr sicher, dass der Mann mich nicht geliebt hat. Obwohl er vielleicht gemeint hat, dieses starke Bedürfnis, mich zu kontrollieren, Macht auszuüben, mich an ihn zu binden, mich zu besitzen, sei Liebe.

Wie sind Sie selbst schließlich endgültig aus dieser zweiten Ehe herausgekommen?

ANTJE JOEL: Sie meinen, warum ich genau an diesem einen Tag dann gegangen bin? Wie jede Frau, die mit einem Gewalttäter zusammenlebt, habe ich ihn vorher mehrfach verlassen und bin zurückgekehrt - bis zu siebenmal gehen Frauen aus einer Beziehung hinaus und kehren wieder zum Gewalttäter zurück. Dabei kehrt immer weniger von einem zurück. Das ist ein Rückzug auf Raten. Abgesehen davon, dass ich mir an jenem Abend bewusst war, dass mein Leben in Gefahr war, hatte ich ihn also schon verlassen – ich habe die Trennung an dem Tag nur vollzogen. Das ist übrigens etwas, das Frauen, die mit einem Gewalttäter zusammenleben, nicht von anderen unterscheidet: Jede Trennung ist ein Prozess. Selbst wenn es einem so erscheint, dass es von heute auf morgen kommt, hat der Prozess der Trennung in unserem Kopf doch schon vorher stattgefunden.

Sie haben sich zunächst auch nach der zweiten Scheidung keine Hilfe geholt, um einmal nachzusehen, was da genau mit Ihnen passiert ist?

ANTJE JOEL: Ich habe da schon Hilfe gesucht, in Form einer Familientherapie. Das wurde allerdings sehr schnell abgehandelt, so nach dem Motto: Nun ist es ja vorbei, und sie leben alle noch, nun muss gut sein. Tatsächlich glaube ich, es braucht Jahrzehnte, um zu begreifen, was da tatsächlich mit einem gemacht wurde und welche Auswirkungen es hat. Nicht, weil Frauen so dumm sind, dass sie das nicht verstehen würden, sondern weil dem eine Gesellschaft entgegensteht. Unsere Gesellschaft ist ja weiter sehr bemüht, den Frauen die Verantwortung dafür zu geben.

Sie haben selbst die Männer, die Sie geprügelt haben, nie angezeigt, nur einmal die Polizei gerufen. Warum?

ANTJE JOEL: Die meisten Frauen, die in so einer Situation die Polizei rufen, wollen nicht, dass diese den Täter festnimmt und ins Gefängnis bringt, sondern nur, dass die Gewalt in diesem Moment beendet wird. Es hat gute Gründe, warum sich Gewaltopfer so verhalten: 75 Prozent der schwersten Übergriffe gegenüber Frauen inklusive Mord finden statt, nachdem die Frau den Mann verlassen hat. Was machen sie denn da? Die Frauen wissen, dass sie sich in der größten Gefährdungsphase befinden, wenn sie das Verlassen des Täters planen oder ihn gerade verlassen haben. Und den Frauen ist bewusst, dass die Gesellschaft ihnen mindestens 50 Prozent der Verantwortung für die Misshandlungen anlasten.

Was hätten Sie sich als misshandelte Frau am meisten gewünscht, was hätte am meisten geholfen?

ANTJE JOEL: Dass mir jemand zuhört. Der Großteil der Menschen hört diesen Frauen nicht zu. Wir verlangen von den Frauen, dass sie die Gewalt beenden, indem sie „den Mann nicht provozieren“. Oder, wenn ihnen das „nicht gelingt“,  indem sie gehen. Häusliche Gewalt und Vergewaltigung sind die einzigen Taten auf der Welt, bei der von den Opfern verlangt wird, dass sie die Gewalt beenden. Beziehungsweise dass die potenziellen Opfer die Gewalt von vorneherein unterbinden, indem sie sich „präventiv“ kleiden und verhalten.

Den Frauen nur zuzuhören, wird sie allerdings nicht vor weiteren Prügeln schützen.

ANTJE JOEL: Wir müssen lernen, auf die Kompetenz der Frauen zu vertrauen, darauf, dass sie selbst wissen, was für sie am besten ist und in welchem Rahmen sie handeln können - ohne sich und ihre Kinder noch mehr zu gefährden. Ihnen zuzuhören und dieses Vertrauen zu vermitteln, ist ein entscheidender erster Schritt. Es ist ein Schritt zu einem gleich würdigen Umgang mit Frauen - und Gleichwürdigkeit ist der Grundstein für ein Ende der Gewalt. 

Was wäre der noch viel wichtigere Schritt?

ANTJE JOEL: Die Gesellschaft muss sich ändern, indem sie diese Gewalt nicht mehr fördert. Gewalt gegenüber Frauen ist in unserer Gesellschaft weit verbreitet und anerkannt. Wenn sich beispielsweise ein deutscher Richter hinstellt und sagt, dass ein Mann, der seine Frau mit 32 Messerstichen getötet hat, keinen Mord begangen hat, sondern nur Totschlag, weil die Frau ja gesagt hat, dass sie ihn verlassen will, und er deshalb traurig ist – dann ist das eine Entschuldigung dieser Gewalt. Beispiele dieser Art gibt es unzählige.

Eine Änderung in den Köpfen der Menschen zu bewirken, ist aber eine Arbeit für Generationen. Was hilft schneller?

ANTJE JOEL: Wir überlegen jetzt seit 40 Jahren, was schneller geht, und seit 40 Jahren betreiben wir Symptombehandlung. Und die Zahlen haben sich nicht verbessert, sie haben sich verschlechtert. Deutschland etwa verzeichnet einen Anstieg von 10 Prozent an häuslicher Gewalt seit drei Jahren, trotz aller großartigen Maßnahmen.

Glauben Sie, dass ihr Buch auch ein Mann zur Hand nehmen wird?

ANTJE JOEL: Ich finde es verblüffend, wenn es als Frauenbuch beschrieben wird. Betroffen sind wir schließlich alle als Gesellschaft. Es geht nicht nur um Täter im Sinne von zuschlagenden Männern und nicht nur um Frauen, die von Männern geschlagen werden. Es geht um ein gesellschaftliches Klima, in dem dieses Problem sich entwickelt hat. Jede dritte Frau erfährt mindestens einmal in ihrem Leben körperliche Gewalt durch ihren Partner oder Expartner. In Deutschland sind das 12 Millionen Frauen. Verrückt, da von einem individuellen Problem sprechen zu wollen.

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