Die Naturheilkunde hat es noch immer schwer, neben der Schulmedizin ernst genommen zu werden. Sie sind als Professor an der Charité in Berlin tätig. Wie etabliert ist die Naturheilkunde dort bereits?

Andreas Michalsen: Heute ist der Status sehr gut, denn der Alltag hat gezeigt, dass man sich über die Behandlung von Patienten zu schätzen lernt. Wir wissen, dass weder der eine ein Scharlatan ist noch der andere ein unmenschlicher Arzt. Am Anfang gab es aber schon hohe Anforderungen an meine wissenschaftlichen Arbeiten, man wollte sicherstellen, dass wir die gleiche Sprache der Wissenschaft sprechen.

Homöopathie, Nahrungsergänzungsmittel, Fastenkuren: In der breiten Wahrnehmung wird das alles vermischt und am Ende steht dann der Wunsch des Patienten: „Ich hätte lieber etwas Natürliches.“ Wie definiert sich Naturheilkunde überhaupt?

Andreas Michalsen: Der Kern des Problems ist, dass die Naturheilkunde zu lange nicht an den Universitätskliniken war, dadurch ist ein Wildwuchs entstanden. Es wird vieles angeboten, was Quatsch ist, und vieles wird in einen Topf geworfen. So glauben viele Menschen, dass Homöopathie zur Naturheilkunde gehört, was überhaupt nicht stimmt. Wir definieren Naturheilkunde als natürliche Heilweisen, die mit dem Ziel der Therapie angewendet werden. Dazu gehören Licht, Luft, Wasser, Wärme, Kälte, Essen, Fasten, Entspannung, manuelle Dinge, die über die Hände gemacht werden wie Massagen oder Osteopathie, und auch die Heilpflanzen – also alles, was der Natur wenig verändert entnommen wird und zur Heilung eingesetzt wird.

Heilung ohne Medikamente?

Andreas Michalsen: Wir setzen Heilpflanzen ein. Mir ist wichtig, zu unterstreichen: Die Naturheilkunde ist keine Alternativmedizin! Es geht nicht darum, eine Alternative aufzubauen. Die Naturkunde ist eine nebenwirkungsarme, natürliche Methode, um Heilung zu unterstützen. Das kann man parallel zur Chemotherapie machen oder nach einer Operation. Aber es ist nicht das Ziel, gegen Medikamente zu sein. Ich bin Internist, und ich setze Medikamente ein wie jeder andere Internist auch.

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Sie schreiben, dass es die Hauptaufgabe der Naturheilkunde ist, die Selbstheilungskräfte anzuregen. Wie funktioniert das?

Andreas Michalsen: Manche sagen, es gibt gar keine Selbstheilungskraft, was Quatsch ist, sonst könnte kein Chirurg operieren, wenn die Wunde nicht zuwachsen würde. Es gibt die Selbstheilungskraft, aber es gibt auch Krankheiten, die so schwer sind, dass diese Kräfte nicht ausreichen. Ich habe lange auf Intensivstationen gearbeitet, dort ist es wichtig, die Beatmungsmaschine einzusetzen und einen Herzkatheter zu legen. Das Anregen der Selbstheilungskräfte spielt in der Vorsorge und in der Behandlung chronischer Erkrankungen eine zentrale Rolle. Ein gutes Beispiel sind die Darmbakterien: Diese sind an schweren Immunerkrankungen wie Rheuma oder multipler Sklerose beteiligt. Die Darmbakterien lassen sich durch die Ernährung beeinflussen. Meditation ist auch ein gutes Beispiel: Wir wissen, dass man dadurch starke Wirkungen im Körper auslösen kann.

Wenn Sie ein Ranking erstellen müssten: Welche Methode der Naturheilkunde wird besonders unterschätzt?

Andreas Michalsen: Ich würde drei Sachen nennen: Das sind zunächst die Blutegel, dazu haben wir viele Studien gemacht. Sie sind hochwirksam in der Schmerztherapie, bei Arthrosen, aber auch chronischen Rückenschmerzen. Blutegel haben ein Ekel-Image, weil sie aus dem Mittelalter kommen, aber sie sind hocheffektiv, und schon nach nur einer Behandlung hält der Effekt mehrere Monate an. Zweitens ist da das Heilfasten, das halte ich bei Entzündungen und Stoffwechselerkrankungen für eine enorm wirksame Therapie. Die dritte Methode ist die Meditation, die halte ich für die Anregung der Selbstheilungskräfte für enorm wichtig. Meditation kann man aber auch bei schwersten Krankheiten ergänzend einsetzen, das führt oft zur Verbesserung der Lebensqualität, zur Verbesserung des Schlafs, zur Beschwerdelinderung bei Schmerzen, auch bei Krebserkrankungen. Meditation kann jeder bei sich selbst leicht durchführen.

Ein Argument gegen naturheilkundliche Methoden lautet: Das ist doch alles nur Placebo-Effekt. Wie gehen Sie damit um?

Andreas Michalsen: Der Placebo-Effekt ist etwas Gutes! Jedes Medikament, jedes Arzt-Gespräch hat einen Placebo-Effekt. Ich liebe den Placebo-Effekt, denn er ist nebenwirkungsfrei, und jede Medizin sollte versuchen, so viel Placebo wie möglich zu enthalten. Dass der modernen Medizin der Placebo-Effekt nichts wert ist, halte ich für eine der fehlerhaftesten Entwicklungen.

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