Ich wurde 1967 im Iran geboren und war zwei Jahre alt, als wir weggezogen sind. Die erste Station war Los Angeles, wo wir ein Jahr geblieben sind. Danach waren wir noch ein Jahr in der Türkei. Als ich vier Jahre alt war, sind wir in Wien gelandet. Und geblieben. Meine Erinnerung setzt auch hier ein und zwar an ein österreichisches Frühstück, meine erste Erinnerung ist der Geschmack einer Himbeermarmeladesemmel.

Proschat Madani mit ihrer "Löwenmutter"
Proschat Madani mit ihrer "Löwenmutter" © Privat
Proschat Madani mit ihren "Vorstadtweiber-Koleginnen" Martina Ebm und Nina Proll
Proschat Madani mit ihren "Vorstadtweiber-Koleginnen" Martina Ebm und Nina Proll © ORF

Das Warten.
Meine Eltern hatten beschlossen, dass sie gemeinsam mit uns nach Amerika emigrieren. Mein Vater war Arzt und hatte eine Stelle in einer Klinik in Los Angeles angeboten bekommen. Er schickte meine Mutter und die vier Kinder voraus und wollte nachkommen, sobald er das Haus und seine Praxis verkauft hatte. Wir sind ein Jahr in Amerika gesessen und haben auf ihn gewartet, er kam aber nicht. Unser Visum wurde nicht mehr verlängert, weil es an den Job meines Vaters gebunden war. Meine Mutter, die damals gerne in Amerika geblieben wäre, war unglaublich enttäuscht. Zurück wollte sie aber dennoch nicht. Nach einer Zwischenstation in der Türkei hat sie dann in allen möglichen europäischen Ländern einen Visumsantrag gestellt. Damals sagte Österreich: Kommt einmal für ein halbes Jahr. Und daraus ist das restliche Leben geworden.
„Er kommt noch.“
Warum mein Vater nicht nachgekommen ist? Das ist eine gute Frage, die ich mir mein ganzes Leben lang gestellt habe. Warum lässt ein Vater seine Frau und seine vier Kinder im Stich? Später, als mein Vater im Sterben lag, war ich ja noch einmal im Iran, um ihn zu sehen. Da hat sich herausgestellt, dass er einen ganz anderen Blick auf die Geschichte hatte. Er warf mir vor, dass wir ihn verlassen – und uns im Westen ein gutes Leben ohne ihn gemacht hatten. Ich wusste aber, dass das so nicht war. Wir haben viele Jahre auf ihn gewartet. Uns Kindern wurde immer gesagt: „Er kommt noch. Er kommt noch.“ Und nach der Revolution, die nicht nur für das Land ein großer Einschnitt war, sondern auch für uns persönlich, war uns klar, dass er nicht mehr kommen wird. Seine Geschichte interpretiere ich als Lebenslüge, damit er besser mit seinem Versagen leben konnte.

Ich glaube, in Wahrheit wusste er, dass meine Mutter der weitaus stärkere Mensch war als er. Und dass er im Ausland in ihrem Schatten stehen würde. Er wusste, dass sie nicht zu bremsen sein und sich selbst verwirklichen würde. Letztendlich war es auch wirklich so, weil meine Mutter ohne ihn ein selbstbestimmtes Leben führen konnte. Und er war wahrscheinlich im Iran auch glücklicher. Also war es am Ende für alle gut.

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Der Alltag.
Meine Mutter hatte im Iran Soziologie studiert und ihr Doktorat gemacht. Bevor sie ausgewandert ist, hatte man ihr eine Stelle an der Uni angeboten. Sie war im Iran also gut aufgestellt, wollte aber trotzdem in den Westen. Als sie dann nach Österreich kam, zeigte sich, dass sie dort gar nichts machen konnte. Ihr iranisches Studium hat in Österreich nicht gegolten. Sie konnte nur schlecht Deutsch. Sie hatte kaum Geld. In ihrer Verzweiflung bewarb sie sich damals als Hilfskraft in einer Bäckerei. Dort bekam sie zur Antwort, dass das saubere Arbeit sei und nichts für Ausländer. Meine Mutter ist ein unglaublich stolzer Mensch. In dem Moment war ihr klar, dass sie einen anderen Weg einschlagen musste.

Sie hat also überlegt: Was können wir Iraner gut? Wir sind gastfreundlich! Es kann also nicht so schwer sein, eine kleine Pension aufzumachen. Sie hat im ersten Bezirk eine Lokalität gefunden, hatte aber zu wenig Geld und bei den Banken keinen Kredit bekommen. Also ist sie zu Richard Lugner gegangen und hat ihm gesagt: „Ich mache Ihnen jetzt ein super Angebot. Ich gebe Ihnen den Auftrag für den Umbau und Sie geben mir das Geld, damit ich es umbauen kann. Ich zahle es Ihnen zurück.“ Verquer gedacht, aber es war erfolgreich. Ich rechne es Richard Lugner heute noch hoch an, dass er eingewilligt hat.

Fasching - eine ernste Angelegenheit
Fasching - eine ernste Angelegenheit © Privat

Es begann alles mit einer Pension mit sechs Zimmern, das Hotel Cinderella im ersten Bezirk. Ein paar Jahre später hat sie dann noch eine zweite Pension eröffnet, das Hotel Bajazzo, das hatte dann zwölf Zimmer. Später hat sie beide Pensionen sehr lukrativ als Betrieb verkauft und im neunten Bezirk ein Grundstück gefunden, es gekauft und sich ihr eigenes Hotel hingebaut. So ist sie ins Geschäftsleben eingetreten. In ein Hoteliersleben, was eigentlich nie ihres war, aber sie musste eben ihre Familie ernähren.

Und nachdem sie dieses Hotel gebaut hatte, ist sie nach ein paar Jahren ins Baugeschäft eingestiegen, weil sie gemerkt hat, dass ihr das Spaß macht. Sie ist jetzt 82 Jahre alt, aber nach wie vor arbeitet sie mit meiner Schwester an diversen Bauprojekten. Nicht aktiv zu sein, fällt ihr sehr schwer.

"Ich war ein dickes Kind"
"Ich war ein dickes Kind" © Privat

Die Insel.
Ich weiß nicht, wie es anderen Menschen in der Fremde geht. Für mich war meine Familie wie eine kleine Insel in einem sehr weiten Meer. Man fühlt sich sehr miteinander verbunden, weil man ja sonst nirgends dazugehört. Nach wie vor ist Familie in meinem Leben extrem wichtig. Sowieso, weil das bei Orientalen einfach so ist. In unserem Fall war es eben noch einmal dadurch verstärkt, dass wir in der Fremde waren.
Die Löwenmutter.
Das Leben in dieser Fremde hat meine Mutter zu einer echten Löwenmutter gemacht, die ihre Kinder immer verteidigt hat. Das sind alles Dinge, die mir damals nicht bewusst waren, aber meine Mutter ist eine extrem emanzipierte Frau, ohne jemals das Wort Emanzipation in den Mund genommen zu haben. Gab es ein Problem, musste es gelöst werden. Sie hat einfach gehandelt. Es hat sicher auch meine Haltung zum Frausein geprägt. Ich habe mich nie als schwaches Geschlecht empfunden. Im Gegenteil: Ich habe immer die Männer als schwaches Geschlecht gesehen, weil ich an meinen Eltern erlebt habe, dass Frauen stärker sind und mehr Durchhaltevermögen haben.

Die Anpassung.
Das Leben in der Fremde erfordert Anpassung. Zu begreifen, wie man hier redet, tut und macht. Wie der Humor ist oder was man sagt und nicht sagt. Da kann es schnell einmal zu Missverständnissen kommen. Im Iranischen gibt es den Begriff des „Tarof“, eine Art Höflichkeitshaltung. Wenn man zum Beispiel jemanden auf der Straße trifft, den man kennt, dann lädt man ihn ein. „Komm bitte zu mir nach Hause, bitte trink einen Tee bei uns.“ Der andere weiß aber, dass das nicht ernst gemeint ist und sagt: „Nein, nein.“ Das ganze wiederholt sich ein paar Mal und dann geht man freundlich auseinander. Wenn man nicht weiß, dass es in Österreich anders ist, dann passiert eben, was meiner Mutter ganz oft passiert ist. Sie hat Mütter unserer Schulkollegen getroffen und sie eingeladen. Und die sagten: „Ja gerne.“ Meine Mutter war entsetzt, weil sie nicht damit gerechnet hat, dass sie wirklich kommen. Sie wurden dann aber unglaublich bewirtet, denn das ist orientalische Gastfreundschaft.
Die Schauspielerin.
Ich war die Jüngste der vier Geschwister. Als Nesthäkchen der Familie wurde ich nie sehr ernst genommen. Das war auch noch so, als ich Schauspielerin wurde. Das fanden alle lange Zeit lustig. Ein Erlebnis mit meinem Bruder werde ich nie vergessen. Zu diesem Zeitpunkt habe ich schon lange in diesem Beruf gearbeitet und Theater gespielt. Ich habe den Anrufbeantworter im Hotel meiner Mutter besprochen, mein Bruder ruft an und landet in dieser Warteschleife, hört sie und sagt zu mir: „Du, ich hab das gehört. Das klingt richtig professionell, wie du das machst.“ Er hat es aber wirklich lieb gemeint. Es hat sich in den vergangenen Jahren aber verändert. Jetzt sind sie schon stolz. Meine Mutter ist aber auch kritisch. Liebesszenen nimmt sie mir zum Beispiel nicht ab. Ich fühle mich aber auch wohler in Rollen, die etwas schräger und lustiger sind. Wenn Weibchenverhalten – dann karikiert.

Frieden schließen.
Als mein Vater im Sterben lag, wusste ich, dass das die letzte Chance ist, ihm noch einmal zu begegnen. Ich hatte ihn zu dem Zeitpunkt 28 Jahre lange nicht gesehen. Ich war schrecklich nervös, als ich das erste Mal in den Iran gefahren bin, in mein Geburtsland, in dem ich nach meinem zweiten Lebensjahr ja nie wieder war. Ich musste ein Kopftuch tragen und mit meinem iranischen Pass einreisen.

Ich war damals 36 Jahre alt und habe immer damit gehadert, ohne Vater aufgewachsen zu sein. Es war aber die richtige Entscheidung, aus diesem Phantomvater einen echten Vater zu machen. Denn ein nicht existenter Vater ist ein sehr dominanter Vater. Ich weiß nicht, ob es etwas abgeschlossen hat, aber es hat auf jeden Fall viel bewirkt auf dem Weg, Frieden mit ihm zu schließen. Mit dem Wissen, dass jeder tut, was er tun kann. Dass er der Mensch war, der er war. Er war nicht böse, er war nur schwach.

So faszinierend ich den Iran fand, so warmherzig ich die Menschen dort auch erlebt habe, im Flieger zurück nach Österreich dachte ich mir: Ich liebe Österreich und ich bin dankbar dafür, dass ich hier aufgewachsen bin.