Täglich blicken Menschen auf ihre Smartwatch oder Apps, um Daten über ihren Körper zu erhalten. Woher kommt der Wunsch, sich ständig selbst zu vermessen?
Vivien SUCHERT: Diese Daten befriedigen einen Teil des Bedürfnisses nach Selbsterkenntnis. Die Neugier, Sachen wissen und besser verstehen zu wollen, wohnt dem Menschen schon immer inne. Mit der Selbstvermessung geht das einen Schritt weiter. Auf einmal haben wir Zugang zu Werten, die wir vorher gar nicht wissen konnten. Wir konnten zwar zum Beispiel spüren, dass unser Herz schneller schlägt, aber wie schnell es genau schlägt, konnten wir nicht wissen. Jetzt haben wir die Möglichkeit, über die Beschränktheit der eigenen Sinne hinaus zugehen und eine scheinbar objektive Messung zu erhalten.

Reichen die Informationen, die unser Körper uns sendet nicht mehr aus?
SUCHERT: Ich bin überzeugt, dass man diese genauen Daten nicht braucht, wenn man ein gutes Körpergefühl hat. Wenn wir uns aber zu sehr auf solche Zahlenwerte verlassen, verlieren wir dieses Körpergefühl und brauchen die Werte tatsächlich, um Angabe über unser Wohlbefinden machen zu können. Dadurch laufen wir Gefahr, das Vertrauen in uns selbst zu verlieren. Zusätzlich ist mit der Verwendung solcher Tools immer der Wunsch nach Selbstoptimierung verbunden. Dabei dürfen wir aber nicht vergessen, dass das Optimum ein Trugbild ist, dass man nicht in allen Lebensbereichen erreichen kann.

Woher kommt der Drang „die beste Version seines Selbst“ zu sein?
SUCHERT: Einer der Hauptfaktoren ist sicherlich, dass wir in einer Leistungsgesellschaft leben. Egal ob am Arbeitsmarkt oder bei der Partnersuche, alles ist heiß umkämpft. Um mithalten zu können, glaubt man die anderen permanent übertrumpfen zu müssen. Ein weiterer Faktor ist natürlich Social Media. Dort können wir uns ständig die besten Seiten anderer Menschen ansehen und das erzeugt natürlich Druck.

Beinhalten Apps zur Selbstoptimierung die Gefahr einer Abhängigkeit?
SUCHERT: Die meisten solcher Apps besitzen auch Spielkomponenten. Das solche süchtig machen können, ist psychologisch belegt. Das selbe gilt, wenn wir mit diesen Werten auf Social Media auf die Jagd nach Likes gehen. Dabei wird das Belohnungszentrum im Gehirn stimuliert, das auch bei Suchterkrankungen angesprochen wird. Dazu kommt ganz viel Gewohnheit. Wenn man gewisse Aufgaben dauerhaft extern vergeben hat, vertraut man seiner inneren Kontrolle irgendwann nicht mehr. Dann bin ich tatsächlich abhängig von dieser externen Kontrolle.

Inwiefern spielt Datenschutz eine Rolle, wenn Messwerte online gehen?
SUCHERT: Meist geben wir nur kleine Datenmengen preis. Deswegen denken wir auch nicht groß darüber nach. Wenn diese einzelnen Werte aber zu einem großen Ganzen zusammengefügt werden, ergibt das ein ziemlich genaues Bild von unserer Person. Darum braucht es eine höhere Sensibilität für das Preisgeben von Informationen.

Gibt es auch Bereiche in denen Sie Selbstoptimierung und -vermessung für sinnvoll erachten?
SUCHERT: Im medizinischen Bereich ist die Vermessung sehr sinnvoll. Wenn jemand beispielsweise Diabetes hat, erleichtert die Überwachung gewisser Körperdaten den Alltag ungemein. Auch wenn jemand auf ein gewisses Ziel hinarbeiten – wie die Teilnahme an einem Halbmarathon – ist es durchaus sinnvoll, Apps zur Optimierung der Leistung heranzuziehen.

Wie sollte man am besten mit solchen Apps und Tools umgehen?
SUCHERT: Wenn wir die Kontrolle über unsere Körperfunktionen immer weiter an solche Apps und Tools abgeben, sehe ich die Gefahr einer Diktatur der Daten. Darum sollten wir den intuitiven Zugang zu uns selbst wieder mehr fördern und schätzen lernen. Nachhaltige Glückszustände erreichen wir dann, wenn wir uns von Zahlenfluten loslösen und wieder beginnen Dinge wie sportliche Tätigkeiten, einfach nur zu genießen.

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