Aus Sicht der Psychologie ist Scham das menschlichste aller Gefühle, weil es viel mit Gemeinschaft, Kultur und Werten zu tun hat. Dennoch liegt uns das Wort nicht unmittelbar auf der Zunge, wenn wir nach einem Begriff für das suchen, das verhindern könnte, dass die derzeit offensichtlich zunehmende Grobheit im menschlichen Miteinander noch weiter um sich greift. Was macht Schamgefühl so unentbehrlich?
WOLFGANG HANTEL-QUITMANN: Scham ist ein sehr soziales Gefühl, weil es anzeigt, dass man sich ertappt fühlt, wenn man sich unsozial verhalten hat. Es gibt viele Verhaltensweisen, für die man sich nicht schämt, solange man allein ist. Aber im Angesicht des anderen tritt dann die Scham ein. Das ist ein sehr unangenehmes Gefühl, weil es einem heiß-kalt wird und man förmlich im Erdboden versinken möchte. Gleichzeitig zeigt dieses Gefühl aber auch an, dass wir bestimmte Regeln des Zusammenlebens missachtet haben. Jemand, der Scham empfindet, ist also immer ein Mensch, der zumindest noch bestimmte moralische Standards hat.
Mit Ihrem Buch „Schamlos! Was wir verlieren, wenn alles erlaubt ist“, haben Sie schon vor zehn Jahren vor einer Kultur der Schamlosigkeit gewarnt. Was begünstigt eine solche?
WOLFGANG HANTEL-QUITMANN: Das ist ein komplexer Prozess. Schamlosigkeit hat immer etwas mit der Verletzung der geltenden Normen zu tun. Wenn diese Normen zunehmend aufgeweicht werden, Schamlosigkeit zur Norm wird, dann muss man sich für Schamlosigkeiten weniger schämen. Aus der Rücksicht wird zunehmende Rücksichtslosigkeit und Verantwortungslosigkeit, aus sozialem Denken und Handeln wird Egoismus und ganz persönlicher Narzissmus. Das heißt, es entsteht etwas, das mit guten kulturellen Werten nicht mehr viel zu tun hat.
Wie viel von dem Gradmesser für richtig und falsch ist überhaupt im Menschen angelegt? Bleibt unsere Zivilisiertheit nicht immer nur an der Oberfläche oder ist sie tatsächlich eher schwer abtrainierbar?
WOLFGANG HANTEL-QUITMANN: Wir haben zwar bestimmte Motive und Ambitionen, die man als unsozial bezeichnen kann, aber der gesamte Prozess der Erziehung und Bildung zielt doch darauf ab, uns so weit sozial und kulturell zu bilden, dass wir in einer Gemeinschaft gut leben können. Grundsätzlich ist es doch so, dass der Mensch außerhalb einer Gemeinschaft gar nicht lebensfähig ist. Insofern gibt sich jede Kultur und Gesellschaft bestimmte Werte, die im Zusammenleben bedeutsam und wichtig sind. Das Erste, was bei einer Kultur der Schamlosigkeit zu beobachten ist, ist, dass traditionelle Werte zunehmend verfallen. Damit einher geht auch eine Geringschätzung menschlicher Gefühle wie Mitgefühl, Mitleid, Achtung, Respekt, Ehre, Pflicht, Stolz. Die Geringschätzung dieser Gefühle, insbesondere des Mitgefühls, hat verheerende Folgen, weil sich Menschen nicht mehr danach ausrichten, wie sie von anderen gesehen werden, wie es der Gemeinschaft gut geht, sondern zunehmend ihre eigenen Egoismen an die erste Stelle setzen.
Wer sich nicht als selbstbestimmtes, autonomes Individuum inszeniert, das beinhart seinen Weg geht und Grenzen überschreitet, gilt leider nicht als cool.
WOLFGANG HANTEL-QUITMANN: In diesem Prozess entsteht die Kultur der Schamlosigkeit als Abwehr der Schamgefühle. Die Psychologie nennt dies eine Reaktionsbildung: Schamgefühle sind unangenehm, aber indem ich eine Kultur fördere, in der egozentrische Verhaltensweisen normal sind, muss ich mich nicht mehr schämen.
Das klingt jetzt ein bisschen nach dem Lamento „Früher war alles besser“. War es das wirklich?
WOLFGANG HANTEL-QUITMANN: Prinzipiell ist Kultur sicher kein gradueller Prozess von Fortschritt. Wir haben im vergangenen Jahrhundert eine Barbarei erlebt, die alles in den Schatten stellt, was die Menschheit bisher erlebt hat - der Begriff dafür heißt Auschwitz. Kultur ist immer das Austarieren einer Gesellschaft mit Werten, Rückfälle gehören dazu. Es gibt zu jedem Zeitpunkt im geschichtlichen Prozess Orte mit einer wunderbaren menschlichen Kultur und dann wieder schwere kulturelle Barbarei. Und gar nicht so selten gibt es Kulturen, die eine hohe Menschlichkeit für sich beanspruchen und gleichzeitig das Unmenschlichste sind, was man sich denken kann. Kultur ist immer eine aktive Auseinandersetzung mit Menschen rund um die Frage: „Wie sollen wir miteinander leben? Welche Werte gelten und welche Werte gelten nicht mehr?“
Sie warnen in Ihren Abhandlungen zum Thema immer wieder davor, dass aus der Schamlosigkeit ein Charakterzug werden kann, den schließlich Eltern an ihre Kinder weitergeben.
WOLFGANG HANTEL-QUITMANN: Das ist das Dilemma, wenn ethisch-moralische Standards in der Erziehung fehlen und man Kinder nach einem Glücksbegriff erzieht, der überhaupt keine sozialen Dimensionen mehr hat. Wenn sie nicht mehr dazu erzogen werden, aufmerksam, achtsam und rücksichtsvoll zu sein und Verantwortung im Angesicht des anderen zu übernehmen. Wenn nur noch jeder nach eigenen Glücksprinzipien denkt und handelt: Dann entsteht eine Kultur, der jede Menschlichkeit verloren geht.
Aktuelle Studien deuten allerdings darauf hin, dass jungen Menschen traditionelle Werte, Liebe, Familie und Gemeinschaft immer wichtiger werden.
WOLFGANG HANTEL-QUITMANN: Ja, sie hätten das alles gern, wissen aber nicht, wie es geht. Das ist das Dilemma. Man muss die Ziele von dem unterscheiden, was möglich ist.
Was braucht es, um der beschriebenen Kultur der Schamlosigkeit Einhalt zu gebieten?
WOLFGANG HANTEL-QUITMANN: Wir müssen zunehmend miteinander diskutieren, wie wir miteinander leben wollen. Wir müssen uns mit dem auseinandersetzen, was wir gerade im Prozess der Schamlosigkeit loswerden möchten: Mitgefühl, Menschlichkeit, Achtsamkeit, Respekt, Verantwortlichkeit und so weiter. Das ist eine Aufgabe, der wir uns alle stellen müssen. Die humanistischen Werte gehören breit diskutiert. Wir dürfen die Definition unserer kulturellen, moralischen, ethischen Werte nicht mehr denjenigen überlassen, die aus purem Egoismus und Machtinteresse versuchen, die Diskussionen zu beherrschen und die Grenzen der Scham in Richtung Schamlosigkeit zu verschieben.
Möglichkeiten gibt es genug?
WOLFGANG HANTEL-QUITMANN: Ja, als Vertreter einer bestimmten menschlichen Ethik ist es nur unglaublich anstrengend in diesen Zeiten, sich gegen diese äußerst flach und rassistisch argumentierenden Kleingeister durchzusetzen. Man muss die anstrengende Aufgabe aber auf sich nehmen, weil wir es sonst nicht schaffen, menschliche Prinzipien aufrechtzuerhalten. Die Welt ist einfach viel komplexer, als es uns viele Populisten einreden wollen.