Sie beschäftigen sich seit 19 Jahren wissenschaftlich mit dem Thema Weisheit. Vor fünf Jahren haben Sie in Ihrem Ratgeber „Weisheit – die fünf Prinzipien des gelingenden Lebens“ geschrieben, dass es keine einheitliche Definition für den Begriff gibt. Hat sich das mittlerweile geändert?

JUDITH GLÜCK: In der Forschung haben wir uns noch immer nicht endgültig geeinigt, aber ich werde mir immer sicherer, was meine eigene Definition betrifft. Ich verstehe immer deutlicher, was die Essenz von Weisheit ist, und das kann ich schon kurz beschreiben.

Was also ist Weisheit?

JUDITH GLÜCK: Es ist ein tiefes und breites Wissen über das Leben, das man einerseits durch Erfahrung gewinnt und andererseits durch das Beobachten, was andere erleben – und dadurch, dass man darüber nachdenkt. Dieses Wissen beinhaltet gar nicht so sehr, dass man weiß, wie man etwas richtig macht, sondern, dass man erkennt, wie unterschiedlich die Menschen sind, wie viel man nicht weiß. Hinzu kommt noch eine bestimmte Haltung, zu der auch die fünf Prinzipien gehören, die ich in meinem Buch beschreibe: Offenheit, Empathie, Reflektiertheit, ein guter Umgang mit den eigenen Gefühlen und Selbstvertrauen. Die Idee dahinter ist, dass man, wenn man eine bestimmte Haltung hat, auch das Wissen erwirbt, das zur Weisheit gehört. Man setzt sich mit seinen Lebenserfahrungen auseinander. Ein wichtiger Punkt dabei ist aber: Weisheit ist auch situationsabhängig.

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Weisheit ist also in keinem Fall ein Dauerzustand?

JUDITH GLÜCK: In der Forschung stellt sich immer mehr heraus, dass wir alle manchmal weise sind – und häufig gar nicht. Das hängt mit unserer Haltung zusammen, manchmal kann man die Haltung, die für die Weisheit nötig ist, einfach nicht einnehmen.

Ist reine Weisheit nicht ohnehin ein Idealbild – ein Mensch ohne Schwächen?

JUDITH GLÜCK: Ich glaube eher, dass weise Menschen ihre Schwächen kennen und annehmen. Sie sind mit sich selbst im Reinen – haben aber schon ihre Fehler.

Weisheit assoziiert man automatisch mit Alter. Einen jungen Weisen kann man sich schwer vorstellen. Ein Trugschluss?

JUDITH GLÜCK: Man muss dabei zwei Dinge auseinanderhalten: Ein junger Mensch, der zum Beispiel mit einer lebensbedrohlichen Krankheit konfrontiert ist, kann weiser sein als ein alter, der sich mit diesen Dingen nicht auseinandersetzt. Ich würde Weisheit weniger an das Alter koppeln als an die Lebenserfahrung. Üblicherweise finden sich die Faktoren, die man braucht, um weise zu werden, aber eher in der zweiten Hälfte des Lebens: die Erfahrung, dass man nicht alles erreichen kann, verschiedene Arten von Unkontrollierbarkeit und Unvorhersehbarkeit.

Der Motor des Ganzen ist also die Krise?

JUDITH GLÜCK: Vor fünf Jahren habe ich das so geschrieben; mittlerweile deuten aber Befragungen von Menschen darüber, welche Ereignisse sie weiser gemacht haben, darauf hin, dass es nicht nur negative Erfahrungen waren, sondern zu einem Drittel auch positive: Der Klassiker dabei ist die Geburt eines Kindes. Viele sagen, dass sie dadurch viel gelernt haben. Man braucht nicht unbedingt etwas Negatives, aber etwas, das die eigenen Vorstellungen, Prinzipien und Prioritäten grundlegend über den Haufen wirft. Das kann auch ein langer Aufenthalt in einer fremden Kultur sein.

Ist Weisheit letztlich nun eine Frage der inneren Haltung, der Persönlichkeitsstruktur oder etwas, das man lernen kann?

JUDITH GLÜCK: In der Forschung gibt es zwei Ansätze: Die einen sehen Weisheit als Kompetenz, die man messen kann, die anderen setzen bei der Persönlichkeitsstruktur an, gehen also von einer bestimmten Haltung dem Leben gegenüber aus. Es gehört wohl beides dazu. Wer eine bestimmte Haltung hat, aber nichts lernt aus dem Leben und nicht in der Lage ist, gut mit eigenen und fremden Gefühlen umzugehen, ist nicht weise.

Weise Menschen haben von sich aus, wie Ihre Untersuchungen belegen, nicht den Drang, anderen Rat zu geben. Wie findet man sie also überhaupt?

JUDITH GLÜCK: Weise wollen nicht als solche gesehen werden, oft im Gegenteil. Das hat sich in unseren Untersuchungen deutlich gezeigt, bei denen wir Leute aufgerufen haben, uns weise Menschen zu nennen. Es verstärkt sich aber der Eindruck, dass jene Menschen, die tatsächlich eher weise sind, von vielen anderen aufgesucht werden – gar nicht so sehr, weil sie jetzt in jeder Situation Rat wissen, sondern weil sie den Menschen neue Perspektiven eröffnen.

Der Kern ist, dass weise Menschen gut zuhören können?

JUDITH GLÜCK: Genau – und sie können sich intuitiv in andere hineinfühlen. Hinzu kommt eine reflektive Analysefähigkeit.

Jeder von uns kann ein klein wenig weiser werden, sagen Sie. Eine Übung dafür ist der offene Diskurs, das Gespräch mit Menschen, die anderer Meinung sind?

JUDITH GLÜCK: Ja, das Einlassen auf Leute, die anders denken. Man kann das auch in kleinen Schritten lernen. Und Kindern kann man es vorleben.

Diskussionen beschränken sich derzeit vielerorts auf ein Daumen-rauf und -runter. Facebook und diverse Online-Foren fördern die Polarisierung. Was sagt die Weisheitsforscherin dazu?

JUDITH GLÜCK: Es braucht tatsächlich Diskussionsformate, die einladen, gut zu argumentieren. Wir haben uns in der Forschungsgruppe schon überlegt, ob es nicht möglich wäre, einen Online-Beitrag nach dem Kriterium „Wie weise finde ich den Beitrag?“ oder „Wie ändert er meine Meinung?“ zu bewerten. Die Frage ist freilich, ob sich so etwas realisieren lässt.

Obwohl nur die wenigsten von uns weise sind, haben wir alle irgendwie ein natürliches Sensorium, das uns Weisheit erkennen lässt?

JUDITH GLÜCK: Sagen wir es so: Ein ziemlich weiser Mensch wird von kaum jemandem als unweise gesehen. Wir erkennen intuitiv, wer ein weiser Mensch ist. Dabei projizieren wir nicht einfach die eigenen Werte in eine andere Person hinein. Untersuchungen zeigen zum Beispiel, dass auch Menschen, die politisch weit rechts stehen, einen Weisen für einen eher toleranten Menschen halten.

Die Vorstellung von Weisen ist in allen Kulturkreisen ähnlich?

JUDITH GLÜCK: In einzelnen Aspekten schon, etwa bei der Selbsttranszendenzkomponente, dass Weise nicht eigens ihr Ego bestärken müssen und dass sie viel Lebenserfahrung besitzen. In asiatischen Ländern wird aber zum Beispiel der Faktor Bescheidenheit mehr betont als bei uns. Einen großen Unterschied haben wir in diesem Zusammenhang außerdem in einer Studie in Uganda gefunden: Weise ist dort der, der es schafft, unter schwierigsten Bedingungen zurechtzukommen.

Weisheit ist für alle Menschen positiv besetzt. Fragt man Menschen, was sie sich im Leben am meisten wünschen, taucht das Wort aber so gut wie nie auf. Haben Sie eine Erklärung dafür?

JUDITH GLÜCK: Ich glaube gar nicht, dass viele Menschen nach Weisheit streben, Menschen streben eher nach Glück – beziehungsweise nach dem, was sie für Glück halten.

Sind weise Menschen nicht auch glückliche Menschen?

JUDITH GLÜCK: Ich bin davon überzeugt, dass weise Menschen glücklich sind. Aber nicht jeder glückliche Mensch ist weise, weil eben diese intensive Auseinandersetzung mit Lebenserfahrungen, die weise Menschen auszeichnet, sehr schmerzhaft sein kann. Nehmen wir etwa eine Scheidung, eine Trennung oder das Sterben: Man kann glücklicher sein, wenn man sich nicht so intensiv mit diesen Themen auseinandersetzt. Man kann sein Wohlbefinden auf diese Art leichter aufrechterhalten. Es gibt auch glückliche Menschen, die nicht viel nachdenken.