Viola ist nur ganz kurz gut zu verstehen, bevor ihre Stimme verzerrt wird und die Verbindung ganz abbricht. Die 18-Jährige arbeitet seit September 2018 im französischen Saint-Étienne als Au-pair, schreibt sie später per Mail, weil Smartphones heute anscheinend alles können – nur eben nicht mehr telefonieren.
(Grafik: Die Werte der Jungen)
Bei ihrer Gastfamilie ist Viola für zwei Kinder verantwortlich, sie lernt mit ihnen, bringt sie in die Schule und kocht auch für sie. Im Juni des Vorjahres hat die Schülerin aus Wien die AHS-Matura gemacht, aber schon lange vorher stand für sie fest, dass sie sich nach dieser intensiven Prüfungszeit eine Auszeit nehmen will. „Viele meiner Freunde haben in der 6. Klasse ein Auslandssemester gemacht. Ich nicht und das habe ich bereut, deswegen habe ich bald darauf beschlossen, nach der Matura als Au-pair nach Frankreich zu gehen.“ Wie viele ihrer Klassenkameraden und Altersgenossen nimmt sich Viola ein sogenanntes Gap Year. Ein Jahr Auszeit, um sich zu überlegen, wie es weitergehen soll und um zum Beispiel Praktika zu machen, Sprachen zu lernen oder die Welt zu sehen. Ihre Beweggründe? Viola selbst spricht von einer „Art Reizüberflutung“, weil ihre Generation so viele Möglichkeiten habe, was zwar „toll“ sei, aber es im Endeffekt auch erschwere, Entscheidungen zu treffen. Dazu komme, dass man mit einer AHS-Matura in der Tasche leider noch keinen klar definierten Schwerpunkt für seine weitere schulische oder berufliche Laufbahn habe.
"Terror der unendlichen Möglichkeiten"
Jugendkulturforscher Bernhard Heinzlmaier spitzt die von Viola erwähnte Optionenvielfalt noch weiter zu und nennt es den „Terror der unendlichen Möglichkeiten“. In dieser unglaublichen Vielfalt an Wegen stellt sich für junge Menschen die Frage, wie man den richtigen für sich finden soll. Bernhard Heinzlmaier zeigt durchaus Verständnis für die Jugendlichen, die sich einige Monate aus dem System nehmen, um über ihre Zukunft zu reflektieren. „Schule ist heutzutage eine große Herausforderung geworden. Nicht unbedingt wegen der Stoffmenge, aber wegen der Anwesenheits-, Leistungs- und Kontrollmechanismen.“Man müsse aber festhalten, dass diese Art der Auszeit nur die höheren Bildungsschichten betreffe. „Es ist eine Form eines entgegenkommenden, wertschätzenden Erziehungsstils. Es ist aber auch ein Zeichen dafür, dass die Eltern ökonomisch in der Lage sind, ihren Kindern diese Auszeit zu ermöglichen“, so der Jugendkulturforscher.
Nicht zu viel Zeit "verlieren"
Viola schreibt, dass sie gerade finanziell unabhängig sei. „Ich arbeite 25 Stunden pro Woche, wohne und esse bei meiner Familie und erhalte zusätzlich einen kleinen Lohn, mit dem ich gut auskomme.“ Sie denke aber schon, dass ihre Eltern es nicht zugelassen hätten, dass sie in ihrem Gap Year einfach einmal gar nichts mache. Für sie selbst sei das auch nie zur Diskussion gestanden. Sie wisse auch, dass es ihren Eltern wichtig sei, dass sie nach diesem Jahr zu studieren beginne und nicht zu viel Zeit „verliere“. Dieses eine Jahr sei aber nun eine gute Gelegenheit, ihr Französisch auf ein sehr gutes Sprachniveau zu heben und einmal auf eigenen Beinen zu stehen. „Zusätzlich wusste ich nicht, was ich studieren möchte, das hat mich in meiner Entscheidung nochmals bestärkt.“
Gerade die Vorbereitungen für die Auszeit – sei es nun ein Auslandspraktikum, eine Sprachreise, Freiwilligendienst oder Work and Travel – sollten von den jungen Erwachsenen selbst übernommen werden. „Das fördert die Autonomieentwicklung und Selbstständigkeit junger Menschen“, erklärt Knaus. So könne man in einem Gap Year nicht nur wertvolle Qualifikationen erwerben und persönliche Fähigkeiten und Kompetenzen ausbauen, die sich wiederum später einmal im Lebenslauf gut machen, sondern auch die Zeit der Ungewissheit sinnvoll überbrücken. Eine Herausforderung, die nicht alle verstehen. Vor allem ältere Semester fragen sich, wenn das Thema auf Auszeiten oder Arbeitsmotivation kommt: „Hat unsere Jugend keine anderen Sorgen?“ Jugendforscher Bernhard Heinzlmaier sieht es etwas differenzierter: „Das ist kein Luxusproblem. Leute, die früher studiert haben, haben vielleicht sogar, wenn man alles zusammenzählt, während des Studiums mehr als ein Jahr Auszeit gehabt, weil studieren einfach nicht so intensiv war, wie es heutzutage ist.“ Heute gehe es im Studium aber nach der stressigen Maturazeit gleich umso intensiver weiter. Außerdem, so der Jugendexperte, sei es wohl besser, sich im Vorfeld ein wenig mehr Zeit zur Orientierung zu nehmen, als vielleicht das Studium abzubrechen oder die Studienrichtung wechseln zu müssen.
Zur Selbstständigkeit beigetragen
Viola schreibt, dass sie durch die „viele Freizeit“, die sie nun habe, wenn die Kinder in der Schule sind, schon das Gefühl habe, sich selbst besser kennengelernt zu haben. „Oft wird aber auch von einem Gap Year gesprochen, um sich selbst zu finden. Dem stehe ich kritisch gegenüber, da ich finde, dass man sein Leben lang wächst und sich verändert.“ Dennoch trage dieses Jahr sehr wohl zu ihrer Selbstständigkeit bei, weil sie zum ersten Mal in ihrem Leben wirklich auf sich alleine gestellt sei und das als eine „sehr bereichernde Erfahrung“ empfinde. Außerdem weiß sie nun auch, was sie nach diesem Jahr machen will. „Ich werde in Wien Jus studieren. Die Entscheidung ist mir sehr, sehr schwer gefallen, aber ich werde das jetzt beginnen und sehen, was es bringt.“