Hallo, Herr Professor Schäfer-Elmayer! Finden Sie meine Begrüßung zu salopp oder gehört „Hallo“ heute zum guten Ton?
THOMAS SCHÄFER-ELMAYER: Ob man dieses Grußwort nun mag oder nicht - Tatsache ist, dass sich niemand etwas Böses dabei denkt, der dies sagt. Zunächst bin ich schon froh, wenn jemand überhaupt grüßt. Und ich erwarte, dass wir uns an das „Hallo“ rasch gewöhnen werden. Dann wird es niemandem mehr auffallen.
Ein kurzes Resümee der letzten 20 Jahre - was hat sich in puncto Benimm in Österreich verändert?
An den Grundwerten, die wir Menschen zu unserem eigenen Vorteil beachten sollten, hat sich nichts geändert: Aufmerksamkeit, Freundlichkeit, Höflichkeit, Hilfsbereitschaft, Ehrlichkeit, Diskretion, Respekt, Taktgefühl, Verlässlichkeit, Wertschätzung ... Geändert hat sich unser Verhalten z. B. im Umgang miteinander, bei der Kleidung, beim Duzen, beim oft mangelnden Respekt, auch in Sprache/Wortwahl, in der zunehmend mangelnden Kenntnis und Pflege der Manieren. Aber andererseits auch in der zunehmenden Erkenntnis, die ich in letzter Zeit konstatiere, dass gutes Benehmen erstrebenswert ist. Bisher habe ich allerdings oft den Eindruck, dass man sich vor allem gutes Benehmen von den anderen wünscht und sich selbst noch sehr viele Freiheiten nimmt.
In welchen Bereichen des Lebens könnten wir als Staatsbürger Ihrer Meinung nach mit mehr Achtsamkeit zu Werke gehen?
Da gibt es sehr vieles, bei dem schlimme Dinge gang und gäbe sind und sehr im Argen liegen, vom Umgang mit Tieren - etwa bei der Massentierhaltung - bis zum Umgang mit der Umwelt, auf die wir viel mehr achten sollten. Bequemlichkeit, Egoismus, Rücksichtslosigkeit, Ignoranz und Arroganz sind leider sehr stark verbreitet.
Auch wenn das keine erstrebenswerten Eigenschaften sind, man kommt offensichtlich damit durch. Warum also sollte man Rücksicht nehmen?
Die Menschen vergessen, dass Lebensqualität auch davon abhängt, wie sehr man von anderen geschätzt wird. Wenn schon Rücksicht nicht selbstverständlich ist, sollte wenigstens dieser Gedanke zu mehr Geduld motivieren, weil wir doch sehr darauf angewiesen sind, ob wir und wie sehr wir von anderen gemocht werden. Nett zu anderen zu sein, wird in der Regel mit Sympathie belohnt.
Wo könnten die Österreicher noch ein Schäuferl Stil nachlegen?
Besonders bei den Tischmanieren würde ich mir viel mehr Stil wünschen - aber keineswegs nur bei den Österreichern.
Bei Tisch werden gern die Smartphones ausgepackt - was empfinden Sie in puncto Handy oder E-Mail als unhöflich?
Das Smartphone muss unwichtiger sein als die anwesenden Menschen. Muss ich unbedingt bei Tisch erreichbar sein, so sollte ich ihn wenigstens verlassen, wenn ich diesen wichtigen Anruf entgegennehme. Ein Mail sollte in Österreich die Regeln des Schriftverkehrs genauso einhalten wie ein Brief. Nur firmeninterne Mails können eventuell aus Rationalisierungsgründen ohne Gruß, Anrede, Verabschiedung und mit Kürzeln gesendet werden.
Können Smileys im E-Mail Unhöflichkeiten schmälern?
Nein - ein Smiley kann echte Unhöflichkeiten nicht wettmachen.
Wo hört beim Mobiltelefon der Spaß auf?
Bei Vorträgen, Beerdigungen, im Kino, Theater, Konzert, im Straßenverkehr, in öffentlichen Verkehrsmitteln, bei Tisch, oft im Bett bzw. überall, wo es einfach stört.
In der Hektik bleibt kaum Zeit für Höflichkeit - halten Sie das für eine faule Ausrede?
Das halte ich für eine Ausrede, denn zeitaufwendig ist Höflichkeit wohl kaum. Dafür hilft Höflichkeit bei allen zwischenmenschlichen Kommunikationsvorhaben erheblich, weil es meist darum geht, einander entgegenzukommen.
Auf die Schnelle: drei „Höflichkeiten“, die den Alltag mit dem Partner charmanter machen?
Hilfsbereitschaft, Wertschätzung, Lob und Anerkennung -Komplimente gehören unbedingt auch dazu, werden derzeit leider manchmal mit Anmache verwechselt.
Wie schafft man es heute, ein Kompliment zu machen, ohne dass Freundlichkeit mit Aufdringlichkeit verwechselt wird?
Leider haben viele Menschen verlernt, ein Lob elegant anzunehmen. Ein Kompliment ist nichts anderes als Lob. Es war allerdings auch vor #MeToo eine Kunst, ein formvollendetes Kompliment zu machen. Ich empfehle auch hier - wie bei sehr vielen Themen: Übung macht den Meister! Aber es ist besonders viel Taktgefühl erforderlich.
Werden junge Männer mit guten Manieren Ihrer Erfahrung nach als charmanter und cooler empfunden als jene, die darauf keinen Wert legen oder noch nie davon gehört haben?
Daran besteht überhaupt kein Zweifel. Frauen schmerzt es sehr, wenn ihr junger (oder alter) Mann unhöflich ist, kein Benehmen hat und aneckt.
Ist es heute noch schick, Türen aufzuhalten, Stühle zurechtzurücken und in den Mantel zu helfen, oder läuft man Gefahr, als aus der Zeit gekippt zu gelten?
Dies sind alles Zeichen von Hilfsbereitschaft, Wertschätzung und Respekt. Aber ich habe schon zu viele Diskussionen darüber mit Damen geführt, die dies ablehnen, um mir nicht bewusst zu sein, dass dies leider gerne missverstanden wird in Zeiten der Emanzipation und Gleichberechtigung.
Was kann man Gegnern höflicher Gesten an dieser Stelle mitgeben?
Ich erinnere Diskussionspartner bei all diesen Gesprächen und Diskussionen sehr gerne daran, dass Frauen im Altertum völlig rechtlos waren. Nur in Europa hat es unsere Kultur erreicht, Frauen heute in der Gesellschaft sogar einen höheren Rang einzuräumen als den Männern. Diese - eine unserer größten kulturellen Errungenschaften - sollten wir nicht leichtfertig aufs Spiel setzen. Keine andere Kultur hat dies geschafft.
Wann ist ein Handkuss in der heutigen Zeit noch passend?
Handküsse sind natürlich nur in Situationen passend, die so ein besonderes Signal für hohe Achtung zulassen. Auf einer Skihütte sind sie eher deplatziert. Ich finde sie auch im Business unangebracht.
Was ist denn Ihre persönliche Hitliste der No-Gos - worüber schütteln Sie den Kopf?
Jede Art von Rücksichtslosigkeit, Respektlosigkeit, Unanständigkeit usw. stehen sehr hoch oben auf dieser Liste. Über mangelnde Tischmanieren habe ich in letzter Zeit wohl am häufigsten den Kopf geschüttelt.
Heute wird nicht mehr allein am Tisch gegessen. Streetfood-Märkte etwa sind aus dem urbanen Raum nicht mehr wegzudenken. Was halten Sie von Essen, das im Gehen verzehrt wird?
Weder im Gehen noch in öffentlichen Verkehrsmitteln gehört es sich, größere Mahlzeiten einzunehmen. Man nimmt sich die Zeit und verzehrt sein Essen in aller Ruhe, direkt wo man es gekauft hat. So viel Zeit muss sein - auch aus gesundheitlichen Gründen.
Was Hänschen nicht lernt - etwa Tischsitten -, lernt Hans nimmermehr. Wie schwierig ist es, sich Benehmen und Achtsamkeit im Umgang mit anderen anzulernen, wenn man aus dem Elternhaus kaum etwas davon mitbekommt?
Ich bin davon überzeugt und erlebe es immer wieder, dass Menschen fast alles erreichen können, was sie wollen und wofür sie sich voll einsetzen. Es ist nicht schwer, sich gute Umgangsformen anzueignen, wenn man will. Noch nie war es so leicht wie heute, an diese Informationen zu kommen.
Was sind denn die wichtigsten Grundsätze für Eltern in der heutigen Zeit?
Vorbildhaftes Benehmen, weil Kinder gerne imitieren, Geduld, Prinzipientreue, Gerechtigkeit und die Vermittlung der Umgangsformen nach dem Prinzip „steter Tropfen höhlt den Stein“. Freiheit und eigenständiger Freiraum sollte nicht durch unnötige Grenzen eingeengt werden, aber klare Grenzen sind erforderlich.
Apropos Grenzen - was müssen Kinder und Jugendliche in der heutigen Zeit nicht mehr?
Die meisten haben innerhalb der Familie und in Kindergarten/Schule weit mehr Freiheiten als früher. Leider gilt dies nicht immer für die Öffentlichkeit, wo Kindern manchmal wenig Toleranz und Verständnis entgegengebracht wird. Letzteres ist natürlich manchmal eine Reaktion auf unangenehme Erfahrungen mit ungezogenen Jugendlichen und Kindern.
Was sollten junge Menschen unbedingt in Sachen Umgangsformen wissen?
Benimmregeln sind ein Teil unseres Allgemeinwissens. Je mehr wir davon besitzen, um so bessere Erfolgschancen haben wir. In einer Welt, in der ganz unterschiedliche Kulturen immer enger zusammenkommen, wird deutlicher, dass die Menschen ihre eigenen Werte, Sitten und Gebräuche zumindest kennen müssen, damit sie sich bewusst sind, wofür sie stehen.
Ein Fazit: Warum darf Benehmen nie aus der Mode kommen?
Benehmen ist so wichtig, weil die Menschen sonst ihre kurze Lebensspanne nicht dazu nutzen, sich und allen anderen möglichst viel Lebensqualität zu verschaffen.
Birgit Pichler