Er ist die kleine Schnittmenge im Tortendiagramm der noch gegenläufigsten Leben. Eine Unruhe und ein Hunger sind allem eigen, in dem das Sterben angelegt ist. Es leitet die Wege und lässt stets fürchten, ob es die richtigen sind. Es bewahrt den Menschen vor der Unendlichkeit, dieser unerträglichen Vorstellung, und der Beliebigkeit, die mit ihr kommen muss. Es stellt die Uhren. Es ist ein Auftrag, ein Ruf zu Exzess als biologischer Imperativ, bevor man ins Grab sinkt. Der Tod ermuntert zum Leben, bis er eintritt.
Viele Zeichen gab es früher, die das Ende verkündigten, und für den, der abergläubisch durch die Welt ging, war es schier unmöglich, nicht unaufhörlich den nahenden eigenen oder fremden Tod vorauszusehen. Wenn die Käuzchen schrien: „Geh mit, geh mit“, wenn die Pferde vor den Häusern scheuten, wenn die Bäume spät im Winter blühten, wenn ein toter Vogel in den Kamin stürzte und voller Kohlenstaub in die Asche, würde jemand sterben. Wer zwischen dem Weihnachtsabend und der Silvesternacht Wäsche aufhängte, holte sich den Tod ins Haus, als winkten die leeren Hosenbeine und Hemdsärmel den Knochenmann in die Stuben herein.
Wer bei der Aussaat im Garten ein Stück vergaß, auf dem die Erde bloß und ohne Blumen blieb, hatte sich ein Grab gesät. Jedes Möbelstück konnte ein etwaiger Unglücksbote sein. War im bewegten Holz der Schränke das Rascheln des Totenwurms zu hören, blieben die Uhren stehen, fiel ein Bild von der Wand oder glitt ein Spiegel zu Boden mit dem Gesicht dessen, der sich gerade noch betrachtet hatte im Glas, war nichts mehr zu machen. Wurden viele schwarze Lämmer geboren im Frühling, verhieß es Schlechtes, sah man in Dämmerfrühen Rabenvögel um die Dächer fliegen, war es nichts Gutes. Wer mit dem Gesicht gegen die Türe schlief, würde noch im selben Jahr durch sie hinausgetragen werden, und wer im Alter noch einmal ein Haus baute oder gar ein Bild von sich malen ließ, war des Todes.
Die Welt der Wundergläubigen war eine Welt voll unerschöpflicher Todesnähe und Prophezeiung, in der alle Gegenstände und Tiere bedeutungsaufgeladen dem Tod dienten. Jeder Fehler und jeder Zufall konnte einen ins Grab stoßen. Auch war es schwierig, beim Sterben etwas richtig zu machen, dass man nicht den nächsten, der am Bette noch Wache hielt am kalten Leib, mitriss. Sahen die Augen in diese Richtung oder in jene, war der Kopf des Toten so oder so gedreht, jeder abweichende Zentimeter konnte den Umstehenden schon zum ihm bald Nachfolgenden machen.
Unfähig zum Abschied
Heute weiß man nicht mehr viel vom Tod. Er hat nicht nur seine Gegenwärtigkeit eingebüßt, aber muss seine Existenz rechtfertigen. Er ist von den Bildflächen der Gesellschaft im Neobiedermeier verschwunden und zu Geheimnis und Schwäche des Menschen geworden. Häufig versteckt, oft einsam. Einsam für die Alten, die gehen, und einsam für die Jungen, die nicht wissen, dass man ein Stück mitgehen kann. Man ist ungeübt in Nähe und unfähig zum Abschied. Es fehlen die Gesten, die schlussendlich die Gegensätze von Alter, Gesund- und Krankheit überwinden, und es fehlt an ihrer Selbstverständlichkeit. Keine Furcht zu haben vor den Intimitäten und Überraschungen, die ein Sterben mit sich bringt, nicht scheu zu sein gegenüber einem in sich selbst hineinschrumpfenden Körper, einem gezeichneten Leib, einem verschwindenden.
Wie schade, wenn man nicht weiß, wie man ihm persönlich begegnet, wenn er institutionalisiert und einsam ist, wenn es einem fremd bleibt, wie weich und schön die Hände, die alte Haut einer Großmutter sein können und wie lebenswichtig jede letzte Berührung, jedes Wort, jede Anwesenheit ist, nicht nur für die, die sterben, aber auch für einen selbst. Es sind Augenblicke, Tage, manches Mal Jahre, die eine Solidarität, die man heute nicht mehr erlernt, erfordern und eine Liebe, die nicht feig ist. Abschied zu nehmen fällt nie leicht. Teilzunehmen und sich dem auszusetzen verlangt Mut. Die Grenzen lösen sich auf, wenn Eltern in ihren letzten Stunden wieder klein werden wie Kinder, und man sie doch groß sein lassen muss. Niemand stirbt nach dem Lehrbuch. Der Tod ist Knochenarbeit, scheint immer ungerecht, für die Sterbenden und für die Bleibenden. Ist organisch, sinnlich, archaisch, verstörend, entblößend, schlussendlich versöhnlich. Die letzte Metamorphose, ein großer Zaubertrick, den man ertragen können muss.
Der Körper verwandelt sich und mit ihm der ganze Mensch, den man kannte. Man verliert ihn an den großen Schlaf, den Immermüden, die Augen immer öfter schließend, dünn und mager, unempfindlich für Hunger und Durst. Man hört auf den schweren, unregelmäßigen Atem, der rasselt, als klängen Ketten in den Lungen, wenn der Körper zu schwach wird, den Schleim abzuhusten. Die Hände und Füße sind ewig kalt, so viele Decken man auch auftürmt. Mund und Nase werden grau, die Augen trüben sich und die Pupillen reagieren immer weniger auf Licht, als hätten sie sich schon an ein Dunkel gewöhnt. Das Bett wird feucht von Schweiß. Der Puls schnell und schwach, bevor er vollständig abklingt und die Verwandlung geglückt ist, dann gibt es die ruhige Erschöpfung, die dem Toten im Gesicht steht, wenn er sich herausgehäutet hat aus seinem Schicksal und vom Leben endlich ganz gelöst.
Der Begräbnismantel
Bevor man traurig werden darf, wird man pragmatisch. Irgendwann bleiben die Jahre, in denen niemand stirbt, aus, irgendwann sind Beerdigungsbesuche nicht mehr neu, aber regelmäßige Aufgabe jedes gewöhnlichen Erwachsenen und jedes traurigen Kindes. Irgendwann ist man alt genug, sich einen Begräbnismantel zu kaufen, schwarze enge Schuhe und Taschentücher. Irgendwann ist man alt genug für den unaufhörlichen, fremden Tod, für die Wahl von Kranz, Sarg, Urne, weint, wählt, entscheidet über die Form der Trauer und über die Form des Toten selbst.
Denn, was kann man nicht alles mit ihnen machen, sie eingraben oder verbrennen, plastinieren oder kryonisch einfrieren, ihre Körper in Seemannsbestattungen vom Meer davontragen lassen oder den Anatomisten in weißen Kitteln spenden, ihre Asche zu einem Diamanten pressen und als Schmuckstück am Finger mit sich tragen, oder sie mit einer Trägerrakete fortschießen in den Weltraum. Für ein bisschen Geld reisen sieben Gramm des Verstorbenen in einer Mikrokapsel in die Erdumlaufbahn, umrunden die Welt, verglühen, wenn sie wieder in die Atmosphäre eintreten. Schickt man sie aber ins All, treiben die Kapseln ewig zwischen dunklen Sternen, Astronauten aus Staub en miniature.
Dann kommt die Traurigkeit. Die Liebe will ja immer lieben und der Tod steht dem so unhöflich gegenüber. Er bricht die Gewohnheit, dass alles wiederholbar ist. Er belehrt uns, dass es bei Menschen und ihrem Verlust nicht um Beliebigkeit, aber um Einzigartigkeit geht. Jeder Abschied ist unumkehrbar. Jeder Tote unersetzlich.
Trauer ist etwas Wildes, so gewaltig und neu, wie man es sich nie hätte vorstellen können, bis sie einen von innen befällt. Und kann schön werden, wenn es einem gelingt, den Toten in sich selbst zu implementieren, zum Erinnern und für alle Geheimnisse, wenn man seine Körperlosigkeit irgendwann dazu nutzt, ihn stets verfügbar mit sich zu führen, als hätte man die Großmutter ständig an einem unsichtbaren Telefon im Kopf. Das ist der nächste Zaubertrick. Für den man bloß lieben muss.