Auf Gleis sechs fährt der Zug ein und schon steht man am Seeufer. Das historische Zentrum von Radolfzell liegt auf der anderen Seite des Bahnhofs, denn die Stadtväter des 19. Jahrhunderts wollten die Eisenbahnen unbedingt direkt am Wasser sehen: Sie ließen dafür einen Weinberg abgraben und das Gelände für den Bahnhof aufschütten. Was damals der letzte Schrei war, erweist sich heute angesichts des verstellten Seeblicks zwar als Nachteil bei der Vermarktung, aber als Pluspunkt für alle Radreisenden, die mit der Bahn kommen: Sie können die mittelalterlichen Gassen erkunden, das Münster besichtigen und einen Kaffee auf dem Marktplatz trinken – oder eben direkt zur Halbinsel Mettnau radeln, wo gleich zwei Strandbäder warten.
Gen Norden führt der Bodensee-Radweg aus der Stadt hinaus. Bei Stahringen öffnet sich ein weiter Blick über sanfte Hügel und Apfelplantagen bis zum Überlinger See, wie der nordwestliche Teil des Bodensees genannt wird. An dessen Ende liegt Bodman, das erste Ziel der Tour und der Ort, von dem der See seinen Namen hat. Ab dem Mittelalter hieß er, zumindest im deutschen Sprachraum, nach der Kaiserpfalz in Bodman – und aus dem Bodman-See wurde der Bodensee.
In der Vorsaison ist noch Platz auf dem Radweg
Flott läuft das Rad Richtung Überlingen. Sagenhafte Fresken sind zu bestaunen am Eingang zum neuen Überlinger Uferpark. Es ist ein wolkiger Tag in der Vorsaison, wo auf dem Radweg Platz für alle ist. Voll wird es vor allem in den Sommerferien. Überlingen mit dem gotischen Münster, den liebevoll bepflanzten Gärten und der Promenade ist eine Übernachtung wert. Den Bahnhof ließen die schlauen Überlinger hinter die Altstadt und tiefer legen, sodass – anders als in Radolfzell – ihr Seeblick unverstellt blieb.
Vorbei an stillen Jachthäfen und der Barockkirche Birnau geht es am nächsten Morgen zum Pfahlbaumuseum in Unteruhldingen. Hundert Jahre alt wurde es 2022, das älteste Freilichtmuseum Deutschlands. Gelangweilte Teenager schlurfen Richtung Museum, gleich drei Schulklassen werden an diesem Morgen zu Gast sein. Dennoch nimmt sich Gunter Schöbel, seit 1994 Direktor, Zeit für ein Gespräch. Er betont die historische Dimension der Funde: Seit 2011 zählen die Pfahlbauten zum Unesco-Welterbe, 111 Fundstätten in sechs Alpenländern bekamen den begehrten Titel. Im Museum finden sich originale Fundstücke, im Freien Rekonstruktionen. 23 Bauten zeigen verschiedene Haustypen. In den Hütten wird das Leben in Stein- und Bronzezeit vorgeführt.
Der Bodensee war schon früh ein begehrter Ort zum Leben, mit seinem milden Klima und dem reichen Fischvorkommen. Der Gütertransport über das Wasser mit segelnden Lädinen war viel bequemer als über Land. So ging Holz aus dem Bregenzerwald zu den Weinbauern in Meersburg, Korn aus dem Schwäbischen ins Appenzell. Stets quer über den See, was bei schnell aufziehenden Gewittern lebensgefährlich werden konnte: Etliche Lastkähne verschwanden mit Mann, Maus und Ladung in den Fluten.
Schwarze Wand und gemalter Sonnenuntergang
Vor den Bregenzer Bergen türmt sich an diesem Tag eine dunkle Wand aus Wolken. Mit dem Kursschiff von Hagnau bis Friedrichshafen sollte man ihr eben noch entgehen, so berechnen wir. Die Strecke entlang der Bundesstraße zählt eh zu den weniger attraktiven Passagen des Radwegs. Doch dauerte der letzte Stopp bei Flammkuchen und einem Gläschen Weißwein am Rebgut Haltnau bei Meersburg wohl zu lange – das Schiff fährt jedenfalls ohne uns.
Und so radeln wir nach Friedrichshafen und ab dort weiter der Wand entgegen, die zunehmend schwärzer wird. Letzte dramatische Fotos am Schloss Montfort in Langenargen. Dann: dicke Tropfen, böiger Wind, immerhin keine Blitze. Die Jeans klebt an den Beinen und es wird ungemütlich. Entsprechend froh sind wir, in Wasserburg anzukommen. Das liegt bereits in Bayern und es lohnt sich, neben dem Radfahren reichlich Zeit einzuplanen. Etwa für den Lindenhofpark, wo sich ein exklusives Seebad findet. Oder für Lindau mit seiner Hinteren Insel.
Nun folgt der schönste Teil des Bodenseeradwegs: hinaus aus Lindau, über die Grenze nach Österreich, von Lochau nach Bregenz. Der Weg ist breit und offen zum See, freie Stege und Badetreppen zuhauf. Auf dem Grünstreifen zwischen Radweg und Bundesstraße lagern Badende und Freiluftarbeitende mit ihren Laptops.
An nächsten Tag wähnt man sich in einer venetischen Lagune: Das ausgedehnte Rheindelta, sumpfig und mit etlichen Tümpeln, steht unter Naturschutz. Ein Storch im Landeanflug segelt knapp über den Kopf und Bachstelzen kreuzen den Schotterweg auf dem Damm.
Eingezwängt in der Schweiz
Dem schönsten Wegabschnitt in Vorarlberg folgt der unansehnlichste, gleich nach der Radbrücke zur Schweiz. Hinter der Schallschutzmauer zur Autobahn führt der Radweg an einem Graben entlang, rechter Hand begrenzt von einem dicken Zaun. Die Zaunhersteller müssen sich in der Schweiz eine goldene Nase verdienen: Effizient wurde der Radweg eingezäunt, zwischen Gleisen, Feldern oder Privatgärten ist er eingezwängt. Immer wieder quert er die Schienen, vom See lässt sich selten ein Blick erhaschen.
Eine Übernachtung in der ehrwürdigen Gemeinde Arbon muss dennoch sein, bereits die Römer bauten hier ein Kastell. Wunderbar ist es in der „Wunderbar“, der früheren Saurer-Werkskantine mit Seeblick. Am letzten Tag geht es am Schweizer Seeufer bis Konstanz. Der Seehas, die regionale S-Bahn, überbrückt die finalen zwanzig Kilometer zurück zum Start nach Radolfzell. So viel Luxus darf man sich am Schluss doch gönnen. Immerhin zeigt der Tacho 177 Kilometer.
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Doris Burger