Es kann nicht schaden, an Wiedergeburt zu glauben, wenn man in Hanoi über die Straße gehen will. An der New Yorker Börse geht es bei einem Börsencrash nicht hektischer zu. Millionen von wild hupenden Mopeds treffen auf Autos, Cyclos und Fußgänger. Alle gleichzeitig, aus allen Richtungen und allzeit.
„Und dass mir niemand verloren geht!“ Tourguide Bao führt das Regiment mit deutscher Gründlichkeit. Die hat er damals im sozialistischen Bruderstaat DDR gelernt, genauso wie die Sprache. Die 36 Gassen der Altstadt sind ein Dschungel, der Stadtplan ist die Machete. Also Augen zu und durch. Aber es kracht nicht. Eine wundersame Choreografie vollzieht sich, keiner steigt in die Eisen, niemand zeigt dem anderen den Vogel, irgendwie geht sich alles aus. Die hohe Schule der friedlichen Koexistenz mitten im heillosen Chaos. Der Stress bleibt auf der anderen Straßenseite zurück.
Einen Schritt und plötzlich ist es ganz ruhig: Hinterhofcafés wie das Green Tangerine sind Oasen der Ruhe im Gassengewirr der Altstadt, die der Hoan-Kiem-See vom französischen Kolonialviertel Ville Française trennt. Und im ca phe trung - heißer Kaffee mit Zucker und Eigelb schaumig aufgeschlagen -, den dort die Kellnerin serviert, möchte man am liebsten versinken. Wie auch im Farbenrausch des Literaturtempels, der Eigenartigkeit der Einsäulenpagode oder der Darbietung des Wasserpuppentheaters, das illustriert, warum der dreistöckige Schildkröten-Turm auf einer Insel im Hoan-Kiem-See steht.
Die Weisheit liegt im Pho
Woran Vietnam glaubt? „Das kommt drauf an. Ein bisschen ist man Buddhist, ein wenig Daoist, Kommunist. Und wer kann, auch Kapitalist“, sagt Bao. Der omnipräsente „Onkel Ho“ hätte damit wenig Freude gehabt. Sein Geist wohnt rund um den Ba-Dinh-Platz: Im Park daneben ließ sich Ho Chi Minh ein Holzhaus bauen, von dem aus er bis zu seinem Tod 1969 das Land lenkte. Ein Mausoleum hat sich der Präsident testamentarisch verbeten, doch die Partei machte ihm einen Strich durch die bescheidene Rechnung.
Darauf hätte er wohl Pho geschlürft. Die Nationalsuppe ist so etwas wie die kulinarische Universalantwort auf alle Lebenslagen, bereitwillig erteilt in Garküchen am Straßenrand. Eine Wegzehrung, bevor uns der Victoria Express Richtung Norden schaukelt. In den Schlaf, und in eine andere Welt.
Quiiiiieeeeetsch. Metall schleift auf Metall, der Zug bremst, Weichen werden gestellt. Der Großstadtdschungel ist dem echten gewichen. Und einem Wasserbüffel, der mich verdutzt durch das Fenster des Waggons anglotzt. Wobei: So verdutzt, wie ich aus der Wäsche schaue, wird er sich wohl dasselbe denken.
Im hohen Norden
Vom Bahnhof in Lao Cai schrauben wir uns die kurvige Bergstraße nach Sa Pa hinauf. Der einstige Sommerfrischeort der französischen Kolonialherren (1859 bis 1954 an der Macht) auf 1600 Metern hat sich wegen der Nähe zu Vietnams höchstem Berg, dem Fansipan, zu einem Basislager der Bergsteiger gemausert. Ein Kaffee und ein Croissant - beides gern genommene Überbleibsel der Grande Nation - lassen die Nacht im Zug einem Morgen der Verwunderung weichen.
Hier, mitten im Nirgendwo, schmettert Michael Bublé aus dem Radio, während das Handy Gratis-WLAN ortet und eine Gruppe dunkelblau gewandeter Frauen den Gastgarten des Cafés Gecko umringt. „Schwarze Hmong“, sagt Bao und beginnt die Unterschiede der vielen Völker des Nordens anhand ihrer Stammestrachten zu illustrieren.
Wie in längst vergangenen Tagen eine Zirkusvorstellung es vermochte, versetzen einen die Märkte in Bac Ha oder Can Cau in kindliches Staunen: Die grellen Farben der Trachten und exotischer Früchte sind ein hochprozentiger Cocktail für die Augen. Während Bao wie ein Tiger um den Preis bunt bestickter Krägen und indigoblauer Mäntel feilscht, coiffiert der örtliche Friseur Männern im Akkord die tiefschwarzen Haare, bringt die Kostprobe der chinesischen Grapefruit Pomelo die Geschmacksnerven zum Erblühen, hüllen einen vietnamesische Wortfetzen in eine Art Trance. Mit einem abrupten „Cam on“, schließt Bao seine Verhandlungen mit den Näherinnen. Danke.
Wie Höhenschichtenlinien auf der Landkarte ringeln sich Reisterrassen um die Berge des Nordens, dazwischen tobt der Dschungel. „Aber es gibt hier auch Astnadelbo“, sagt Bao und zeigt auf ein Wäldchen. Nadelbäume, ja wirklich. Ein markerschütterndes Kreischen durchfährt das Zwitschern der Vögel. „Das ist kein Tier, das ist nur eine Kreissäge“, beschwichtigt Bao und scheucht die Gruppe weiter. „Ein klarer Fall von Astnadelbo.“
Gezähmter Drache
Vergleichsweise zahm ist die Halong-Bucht, auch wenn hier Tausende Kalkfelsen wie die Zähne eines Drachen aus dem Meer aufragen. „Xin chào“, heißt uns die Besatzung des Schiffes im Chor willkommen, mit dem wir durch das Labyrinth von Inseln und schwimmenden Häusern schippern. Eine andere Naturschönheit hat die „Bucht des untertauchenden Drachen“ berühmt gemacht: Catherine Deneuve im oscarprämierten Drama „Indochine“. Der paradiesische Ort im Golf von Tonkin hat den Oscar für die beste Filmkulisse verdient. Großes Kino, das Sintfluten von Touristen anlockt.
Hanoi hat uns wieder. Mit dem ersten Schritt springt man kopfüber ins ultimative Chaos, um von diesem unwirklichen Gefühl der Ruhe aufgefangen zu werden. Eine Frau setzt ihr Schulterjoch ab, in dessen Körben sich bunte Früchte türmen, um auf dem Smartphone ihre E-Mails abzurufen. Sie schenkt mir ein Lächeln. Wiedergeburt? Ich weiß nicht. Ich glaube ans Wiederkommen.