Wild flattert die Taube über das Dach. "Komm, Sridevi", flüstert Sanjiv Sharma sacht. Er nimmt das Tier vorsichtig auf die Hand. Während weit unter ihm Händler Saft und Tabak verkaufen, blickt er von oben über Indiens Hauptstadt. Rund 125 Vögel züchtet Sharma in kleinen vergitterten Verschlägen auf seinem Hausdach in Old Delhi, dem Teil der Millionenmetropole, der aus dem 17. Jahrhundert stammt.
Alte Tradition
Wie Sridevi hat er sie fast alle nach indischen Filmstars benannt. Im Hintergrund seines Hauses liegt die gewaltige Moschee Jama Masjid. Die meisten Taubenzüchter sind, anders als Sharma, Muslime. "Es ist eine alte Tradition, die aus der Zeit der indischen Mogulreiche stammt", sagt Sohail Hashmi, Stadtführer und Historiker in Delhi.
Über Jahrhunderte hätten Mogul-Kaiser und Adelige mit Hilfe der Tauben kommuniziert. "Jede Familie besaß eigene Tiere und schickte sie zwischen dem Kaiserhof und dem eigenen Haus hin und her", sagt Hashmi. "Mit Ende des Mogulreichs wurde die Tierzucht aber immer mehr zu einer reinen Freizeitbeschäftigung."
Im Sonnenauf- und -untergang
Vor allem in Nordindien und Pakistan züchten die Menschen heute noch Tauben. In Delhi sind es rund 40 Familien, die meisten davon leben in Old Delhi. Zum Sonnenaufgang und zum Sonnenuntergang ziehen Dutzende Schwärme ihre Bahnen über die langsam verfallenden Häuser.
Sanjiv Sharma klettert jeden Tag auf sein Dach, um die Vögel zu trainieren. Mit einem Netz, das wie bei einem Kescher an einem Holzstock befestigt ist, gibt er ihnen Befehle. Dazu stößt er im Wechsel kurze Pfiffe und langgezogene Rufe aus. Die Tauben folgen über den Dächern seinen Bewegungen und fliegen enge Kreise und weite Schleifen.
Der Höhepunkt des Jahres
Einmal im Jahr, am Tag der Republik im Jänner, treten die Züchter gegeneinander an. Für Sanjiv Sharma ist es der Höhepunkt des Jahres. Wie die anderen Züchter hat er eine halbe Stunde Zeit, in der er vorführen kann, was er seinen Tieren beigebracht hat.
Eine Jury aus erfahrenen Züchtern bewertet, wie gut die Schwärme Manöver fliegen. Die Männer vergeben Punkte dafür, wie gut die Tiere auf Befehle reagieren, wie geschlossen der Schwarm fliegt und wie hoch. Es gibt zwar keine Preise, aber der Respekt für den Sieger ist im Viertel groß.
Die Sieger werden teuer gehandelt
Gut trainierte Tiere werden im nahe gelegenen Meena Bazaar teuer gehandelt. Zwischen 5.000 und 10.000 Rupien (70 bis 140 Euro) kostet eine Taube. "Ich verkaufe meine Tiere aber nicht", sagt Sharma. Die Taubenzucht sei ein Hobby, kein Geschäft. Schon seit seiner Kindheit züchtet er Tauben. "Es sind unheimlich friedliche Tiere", sagt er. Er versuche deshalb auch, sie so gut wie seine eigenen Kinder zu behandeln. Die Weibchen tragen kleine Glöckchen um die Füße, wie es auch bei Mädchen in Indien üblich ist.
Gefüttert werden die Tiere mit teurer Perlhirse und Kichererbsen. Die Tauben, die zum Wettkampf antreten, erhalten zudem Butterschmalz und schwarzen Pfeffer. Der Unterhalt der Tiere kostet Sharma rund 1.000 Rupien im Monat (14 Euro). Und auch wenn der 55-Jährige nicht mehr arbeitet, ist es ihm das Geld wert, das er von seinem Ersparten nimmt.
Eine Leidenschaft
Mindestens zwei Stunden verbringt der Züchter am Tag auf dem Dach. Zweimal am Tag füttert er die Tiere, im Sommer bekommen sie noch einmal zusätzlich Wasser. Häufig ist auch sein 17-jähriger Sohn Divyansh dabei. Später könnte er den Schlag übernehmen, hofft Sharma. "Aber nur, wenn sein Interesse so groß ist wie meines", sagt er. Es sei keine Familientradition, sondern seine Leidenschaft. Die möchte er seinem Sohn vererben, aber nicht aufzwingen.
Sharma streckt seine Hand wieder nach Sridevi aus. Die Taube klettert bereitwillig auf seinen Arm. "Ich kenne die Tiere schon gut", sagt er. "Aber sie kennen mich besser."