Lustige Tanzvideos, kreative Rezeptideen oder „#CleanToks“, also Kurzvideos, die zeigen, wie man effizienter putzt. Social-Media-Plattformen können eine Unterhaltungs- oder Inspirationsquelle für junge Nutzerinnen und Nutzer sein. Auch mentale Gesundheit und psychische Erkrankungen finden als Thema immer häufiger ihren Platz. Dieser offene Diskurs ist wichtig - kann aber auch gefährlich sein. Ein Beispiel?
Eine junge Frau zeigt sich in einem TikTok-Video, über ihr eingeblendet der Titel „5 Anzeichen, dass du ADHS hast – Teil 12“. Die Anzeichen: Tagträumen, Konzentrationsschwierigkeiten, übermäßig gesprächig sein, Impulskäufe und das Kauen der Wangeninnenseite. Das Video hat 4,5 Millionen Aufrufe. Darunter Kommentare wie „Hilfe, ich habe sie alle“ oder „Ich habe ADHS, ein weiteres Anzeichen ist, dass ich oft Dinge vergesse“. Es ist nur eines von unzähligen dieser Videos, die von ADHS, Autismus, Depression oder anderen psychischen Erkrankungen handeln.
Wie sinnvoll ist es, in sozialen Medien über psychische Krankheiten zu sprechen?
Fachleute sind sich einig: Es ist gut, dass mehr über mentale Gesundheit gesprochen wird, so entsteht ein größeres Bewusstsein für Krankheitsbilder. Barbara Buchegger, pädagogische Leiterin der EU-Initiative Saferinternet.at bestätigt: „Erzählungen von Betroffenen führen zu einer Entstigmatisierung von psychisch erkrankten Personen sowie zu einer Akzeptanz dieser Personen in der allgemeinen Gesellschaft.“ Ein Austausch hilft Betroffenen, mit den Belastungen umzugehen. „Es war lange Zeit so, dass man psychische Erkrankungen versteckt hat. Das ist in vielen Gegenden noch immer so. Influencer können einen positiven Beitrag dazu leisten, dass dieses Thema präsenter wird“, schildert auch Thomas Trabi, Abteilungsvorstand der Kinder- und Jugendpsychiatrie und psychotherapeutische Medizin in Klagenfurt.
Das Wissen, nicht allein zu sein, reduziert die Hemmschwelle, sich im weiteren Schritt professionelle Hilfe zu suchen. Zudem sind die Inhalte leicht verständlich und niederschwellig auf dem Smartphone verfügbar. Allerdings warnen die Expertinnen und Experten vor Falschinformationen und dem Algorithmus.
Gefangen in der „Blase“ des Algorithmus
Denn dieser birgt Risiken: „Menschen bekommen dadurch selektiv die Informationen ausgespielt, die ihren Themenbereich treffen. Dort entsteht bei psychisch belasteten Jugendlichen leicht der Eindruck, dass es allen so geht und dass die meisten psychisch krank sind“, erklärt Philip Streit, klinischer Gesundheitspsychologe und Geschäftsführer des Instituts für Kind, Jugend und Familie in Graz. Das kann junge Menschen in eine Abwärtsspirale drängen, bestätigt auch Buchegger. Ihr Tipp: auf Null zurücksetzen.
Eine weitere Gefahr sieht Trabi darin, dass Jugendliche das Gefühl bekommen, ihre Selbstdiagnose sei unveränderlich. „Es ist wichtig zu wissen, dass sich die meisten psychischen Erkrankungen ins Positive verändern können. Das Wissen, dass es besser werden kann, kann einiges an Motivation bieten.“
Informationsquellen überprüfen
Die Qualität und Vertrauenswürdigkeit der Inhalte variiert stark. Es mischen sich Alltagsbeobachtungen mit Diagnosekriterien. „Man sollte sich bewusst sein, dass es großteils Quellen sind, die von Laien kommen“, erklärt Trabi. Er rät, die Informationen genau zu überprüfen: Wer gibt diese Informationen heraus? Wie seriös und vertraulich ist die Quelle? Wird vollständig informiert?
„Nicht jedes Symptom muss auf eine Krankheit hinweisen.“
Was für die einen zu einer bestärkenden Selbsterkenntnis führt, kann für andere die Furcht auslösen, an einer psychischen Erkrankung zu leiden. „Nicht jedes Symptom muss auf eine Krankheit hinweisen. Manche sind Teil der normalen Entwicklung“, erklärt Trabi. Trotzdem sollte man ein Bauchgefühl nicht ignorieren, bestätigt auch Buchegger: „Die Grundbefindlichkeit, dass etwas nicht stimmt, ist in vielen Fällen auch richtig“. Dieses Bauchgefühl kann ein erster Impuls sein, sich Hilfe zu holen, um den Verdacht bestätigen oder ausschließen zu können.
Wie viele Jugendliche kommen bereits mit einer Vermutung oder Selbstdiagnose auf Fachkräfte zu? „Es ist sehr üblich, dass Jugendliche, wenn sie Symptome bemerken, mit einer Internetrecherche starten und bereits mit einer Verdachtsdiagnose kommen. Da ist es die Aufgabe von uns Profis, hinzusehen, ob es das wirklich ist oder nicht. Wichtig ist auch der nächste Schritt: die Behandlung“, erklärt Trabi.
Falsche Therapieformen durch Fehldiagnosen
Videos auf TikTok liefern schnell, gebündelt Informationen. „Allerdings werden sie der Komplexität einer Diagnose nicht gerecht“, gibt Trabi zu denken. Es gibt keine Patentrezepte, da sich gerade psychische Krankheiten sehr individuell ausprägen können. Einer Fehldiagnose folgen oft falsche therapeutische Maßnahmen, um aus der Krise zu helfen. Das kostet oft viel Zeit. Zeit, die Betroffene in einem besseren, gesünderen Zustand verbringen hätten können, erklärt Buchegger.
Was können Eltern und Freunde tun, um Betroffenen zu helfen?
Für junge Menschen mit dem Gefühl „mit mir stimmt etwas nicht“, sind soziale Medien eine erste Anlaufstelle. Verständlicher als Studien oder offizielle Diagnosekriterien und nicht so einschüchternd, wie ein Gespräch mit den Eltern oder Fachkräften. Aber wie kann man jungen Menschen Unterstützung anbieten, den ersten Schritt in Richtung Diagnostik zu wagen?
„Was Jugendlichen meiner Meinung nach hilft: Begegnung und Reden. Wenn Eltern und Erwachsene betroffene Kinder und Jugendliche begleiten und genau hinschauen“, schildert Streit. „Und wichtig ist auch: Die guten Seiten hervorheben. Das, was sie außerordentlich gut können.“ Gerade in Krisenzeiten liege der Fokus auf Belastungen, Problemen und Defiziten. Das mache sie auch empfänglich für Selbstdiagnosen. Betroffenen Eltern rät Trabi, selbst Unterstützung anzunehmen. Die psychische Erkrankung eines Kindes kann belastend sein. Zusätzlich sind oft gemeinsame Änderungen notwendig, beispielsweise im familiären Umfeld und Miteinander. „Wir bekommen im professionellen Bereich oft einen „Reparaturauftrag“. Wir sollen das Kind wieder funktionstüchtig machen. Die Rückmeldung, dass es dafür Änderungen im gesamten System braucht, wird oft nicht gerne gehört“, schildert Trabi aus seiner Praxis.
Die Stärken hervorheben, das können auch Freunde besonders gut. Wenn junge Menschen in ihrem Umfeld bemerken, dass jemand mit psychischen Krisen kämpft, sollen sie genau das sein: Freunde. Anstatt in eine Therapeutenrolle zu fallen, sollen sie „weiterhin die Dinge tun, die ihnen Freude bereiten, die Spaß machen, die Kraft bringen“, erklärt Trabi.
Hier finden betroffene Jugendliche Hilfe
Eine mehrfach genannte Anlaufstelle für Kinder und Jugendliche ist das Angebot „Gesund aus der Krise“. Hier können sich Betroffene an klinische Psychologinnen und Psychologen wenden und erhalten eine kostenlose Unterstützung für bis zu zehn Einheiten. Es gibt auch ein breites Angebot an Gruppenbehandlungen. Diese Möglichkeit kann die langen Wartezeiten für einen fixen Therapieplatz überbrücken. Andere Anlaufstellen finden Sie auch hier: