Der erste Akt gehört der jungen, unterbezahlten Anwältin Rita Moro Castro (sensationell abseits der Hollywood-Blockbuster: Zoe Saldaña). Gerade hat ihre Kanzlei durch ihre emsige Arbeit einen Fall gewonnen, in dem ein Ehefrau-Mörder freikommt. Wieder einmal. Ihren Frust über den korrupten Chef, das patriarchale System sowie ihre Wut über die eigene Beteiligung daran kanalisiert Rita in einer ersten Arie. Zeit, das alles zu reflektieren, bleibt ihr nicht: Denn sie bekommt ein unwiderstehliches Angebot des gefürchteten, mit Gesicht-Tattoos übersäten Kartell-Bosses Manitas (Karla Sofía Gascón). Sein Wunsch: Er will den eigenen Tod vortäuschen, seine naive Frau Jessi (Selena Gomez) und die beiden Kinder zurücklassen, sich einer Geschlechtstransformation unterziehen und woanders neu durchstarten. Rita soll den Plan umsetzen und – wenn alles klappt – abcashen.

„Emilia Pérez“ des französischen Arthouse-Meisters Jacques Audiard (“Wo in Paris die Sonne aufgeht“, „The Sisters Brothers“) ist ein wildes, berauschendes Kino-Musical: Konzipiert als Oper, entert der Film nach der überraschend gehypten Premiere beim Filmfestival von Cannes mitsamt Großem Preis der Jury sowie dem Darstellerinnen-Preis für das Ensemble (Karla Sofía Gascón, Zoe Saldaña, Selena Gomez, Adriana Paz) nun hierzulande die Kinos. Als Oscarkandidat und Favorit für den Europäischen Filmpreis.

Die Story klingt durchgeknallt, entpuppt sich in der Inszenierung aber als famoses Leinwand-Fest, als wilder, atemloser Ritt aus Narcos-Milieu, berührendem Drama, Revenge-Story, Musical-Nummern, Tanzchoreografie sowie weiblicher Selbstbestimmung: Denn als die Geschlechtsumwandlung geglückt ist und Ritas Karriere einen Höhenflug hingelegt hat, begegnen sich die beiden Frauen in London wieder. Nicht zufällig, denn Emilia Pérez (Karla Sofía Gascón), wie sich Manitas nach dem ersten Augenaufschlag mit verbundenem Gesicht im Spital nennt, sehnt sich nach ihren Kindern und Mexiko. Also kehrt sie als unbekannte Cousine von Manitas zurück. Rita muss es erneut regeln.

Wagt sich ins Arthouse-Milieu: Selena Gomez)
Wagt sich ins Arthouse-Milieu: Selena Gomez) © Filmladen

Das Comeback als Seniora

Die große Entdeckung des Films ist Karla Sofía Gascón. In Spanien geboren und später als Telenovela-Star berühmt geworden, unterzog sie sich vor neun Jahren einer Transition, diese Doppelrolle ist die erste als Transfrau. Sensationell verkörpert sie Manitas, der sich mit Gewalt und Geld durchsetzt und Emilia, die das Gewalt-Element scheinbar durch Vernunft eingetauscht hat.

All die Zweifel sowie Gefühle von Reue und Rache werden dabei nicht in Dialogen, sondern auf Spanisch in Songs ausgedrückt. Klingt verrückt, mag aber auf voller Linie und wider alle Algorithmen der Welt zu begeistern. Ein unwiderstehliches Ereignis!

Bewertung: ●●●●●