Gina
Gina (Emma Lotta Simmer) ist erst neun Jahre alt, aber managt schon ihre Familie: Sie kocht Ravioli für ihre beiden Brüder, weiß, wie man gratis ins Schwimmbad kommt und versteckt übrig gebliebene Pizza für Tage, an denen das Abendessen ausfällt. Denn Ginas Mama Gitte (Marie-Luise Stockinger) ist Alleinerzieherin, hochschwanger und alkoholkrank. Im maroden Häuschen mit dem verwilderten Garten am Stadtrand ist Gina die einzige Erwachsene. Auf ihren kleinen Schultern lastet der gesamte Alltag. Der neue Freund der Mutter (Michael Steinocher) ist auch wenig hilfreich, da er von sich selbst sagt, „kein Familienmensch“ zu sein.
Kommt Frau Schweiger (Ursula Strauss) vom Jugendamt zur Kontrolle vorbei, erfindet Gina Notlügen, beschwichtigt – und deckt ihre Mama. Oma Branca (Gerti Drassl) bringt Süßigkeiten oder Geschenke vorbei; Fürsorglichkeit und Geborgenheit gibt es in dieser Familie nicht inklusive.
In ihrem Debüt „Was wir wollten“ widmete sich die Filmemacherin Ulrike Kofler dem Thema unerfüllter Kinderwunsch eines gut situierten Paares. In „Gina“ skizziert sie nun, auf Augenhöhe ihrer jungen Protagonistin, eine alles andere als intakte Familie. Es sind harte Themen, die Kofler behutsam und nach sorgfältiger Recherche anpackt: Kindeswegnahme, Co-Abhängigkeit, Pflegefamilien, Armut. Das Drei-Generationen-Porträt ist dann besonders stark, wenn sich die Regisseurin auf die Blicke und das Spiel ihres starken Ensembles verlässt. Die Geschichte berührt, spendet aber auch einen Funken Hoffnung. Denn Gina will sich ihrem Schicksal nicht hingeben. (js)
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Thelma
Thelma (June Squibb) kann es gar nicht glauben. Die panische Stimme am Telefon, das war gar nicht ihr Enkel Daniel (Fred Hechinger). Die 10.000 Dollar, die sie sofort schicken musste um ihm zu helfen, ein Betrug. Während die Polizei erklärt, dass hier nicht viel zu machen ist, will Thelma das nicht so auf sich sitzen lassen. Sie rekrutiert ihren alten Freund Ben (Richard Roundtree) und dessen Scooter, und beginnt eine Odyssee zu jenem Postfach, an das sie das Geld schicken sollte. Dabei verhandelt der Film gekonnt und mit viel Humor Fragen des Alterns, des Lebens und des Todes, sowie der Würde, die in all diesen Dingen zu finden ist. (sg) ●●●●○
Reinas
Peru in den 1990ern. Im Land herrscht Korruption und Inflation, das Militär kontrolliert die Straßen. Um ihren Töchtern Aurora (Luana Vega) und Lucía (Abril Gjurinovic) eine bessere Zukunft zu bieten, will Elena (Jimena Lindo) mit ihnen in die USA auswandern. Doch dazu braucht sie die Reiseerlaubnis des Vaters. Carlos (Gonzalo Molina) ist ein Kindskopf und Überlebenskünstler, der nach viel Abwesenheit im Leben seiner Töchter diesen wieder näher kommen will. Die letzten Tage in Peru werden ein melodisches Wechselspiel aus Eltern-Kind-Konflikt, Nostalgie, Trauer, Vergebung und Hoffnung. Ein autobiografisch angehauchter Liebesbrief der Regisseurin Klaudia Reynicke an das Land, der sich stets bittersüß und bewegend liest. (sg) ●●●●○
Dahomey
Nur 67 Minuten dauert der diesjährige Gewinnerfilm der Berlinale, der nun ins Kino kommt. Regisseurin Mati Diop hat mit „Dahomey“ im Grunde eine Fernseh-Doku vorgelegt, vom Kultursender Arte produziert und ebenso kompakt wie konsequent. Auf dem Berlinale-Podest und im Kino landet der Film, weil das Erbe des Kolonialismus im Jahr 2024 noch immer ein aktuelles Thema ist. Die französische Filmemacherin begleitet die Rückführung einiger geraubter Kunst- oder Kultgegenstände ins heutige Benin. Dort dokumentiert sie die Diskussionen junger Menschen zur Rolle der kolonialen Vergangenheit in der kapitalistischen Gegenwart. Als Kunstgriff lässt sie zudem die Objekte selbst sprechen. Das ist inhaltlich spannend und politisch relevant. Großes Dokumentarfilm-Kino ist es jedoch nicht. (maw)
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