Weißer Sandstrand, türkisblaues Meer, Wüstenlandschaft: Es könnte das Paradies sein. Es ist aber nur ein windgepeitschtes Dorf, einen Steinwurf von diesem Paradies entfernt. „The Village Next to Paradise“ hat der junge Wiener Autor und Filmemacher Mo Harawe sein Langfilmdebüt genannt. Bei den Filmfestspielen in Cannes uraufgeführt, heimste das feinfühlige Drama über eine zusammengewürfelte Familie an der somalischen Küste viele Auszeichnungen ein; zuletzt den Wiener Filmpreis. Für die Dreharbeiten ist der Regisseur nach Somalia zurückgekehrt, wo er 1992 geboren wurde. Im Alter von 17 Jahren kam er nach Österreich, lebte auch ein paar Jahre in Graz, bevor er in Kassel visuelle Kommunikation und Film studierte.
Mamargade (Ahmed Ali Farah) ist Alleinerzieher, strauchelt als selbstständiger Totengräber wegen der Konkurrenz großer Bestattungsfirmen und transportiert hie und da für zwielichtige Gestalten Waffen in getarnten Obst-Lieferungen. Er lebt mit seiner Schwester (Anab Ahmed Ibrahim) zusammen. Die steckt mitten in einem Scheidungsprozess und hat einen großen Traum: einen Laden mit ihren selbstgenähten Produkten. Mamagades Sohn Cigaal (Ahmed Mohamud Saleban) ist vif, fröhlich und verehrt seinen Vater. Als die Schule im Dorf zugesperrt wird, rät die Lehrerin dem Vater, den Sohn in ein Internat in der Stadt zu schicken. Das Geld dazu fehlt eigentlich. Dennoch entscheidet sich Mamargade dafür.
Was ist Familie? Was ein gutes Zusammenleben? Was hält eine Gemeinschaft zusammen? Wie überlebt man? Mo Harawe stellt existenzielle Fragen und antwortet mit einer universellen Geschichte – vor dem Hintergrund eines von Krieg, Korruption, Piraterie und Umweltverschmutzung gebeutelten Landes. Darauf verweist eine Szene zu Beginn: Ein englischsprachiger Nachrichtensender berichtet von einer Drohnenattacke, bei der eventuell ein Topterrorist getötet wurde. Drohnen und das Dröhnen zählen hier in dem Land in Ostafrika ebenso zum Alltag wie steter strenger Wind. Angriffe durch Drohnen bedeuten hier aber auch, dass Mamargade eventuell bald einen nächsten Auftrag hat.
Dieses atmosphärisch dichte Debüt zeichnet sich durch lange, exakt komponierte Einstellungen (Kamera: Mostafa El Kashef) und einen zärtlichen, nicht wertenden Blick auf seine Figuren aus. Mo Harawe gewährt auf umwerfende Weise seltene und beglückende Einblicke in den für uns fremden Alltag zwischen Tuk-Tuk-Fahrten, Dorfleben und der Scheidungs-Bürokratie. Seine Protagonistinnen und Protagonisten standen teils zum ersten Mal vor der Kamera und tragen mit ihrem authentischen Spiel zur entschleunigten Erzählung bei. Kriminalität, Clan-System, Chemikalien-Katastrophen, extreme Armut oder Drogenproblematik: Vieles wird angedeutet, behutsam vermittelt, dringt in den Alltag von Mamargade und den anderen ein. Warum vieles in diesem Familiensystem unorthodox ist, erschließt sich den Zuschauenden erst nach und nach. Es ist wunderschön anzusehen, wie die Charaktere mit den äußeren Gegebenheiten hadern, eine unbändige Widerstandskraft entwickeln und sich dabei ihrer Träume nicht berauben lassen. Genauso wenig wie ihrer Liebe. Beeindruckende 134 Minuten Hoffnung im Kino.
Bewertung: ●●●●○