Im Mai noch mit der Goldenen Palme in Cannes ausgezeichnet, ist Sean Bakers „Anora“ eines der späten Highlights dieses Kinojahres. Die gleichnamige Titelfigur, die sich lieber Ani (Mickey Madison) nennen lässt, arbeitet als Stripperin in einem Club in Manhattan. Dort trifft sie auf Ivan (Mark Eydelshteyn), genannt Vanya, den Sohn russischer Oligarchen. Offiziell zum Studieren in den USA betreibt der 21-Jährige eher das intensive Studium eines Party- und Lotterlebens. Da Ani die Einzige ist, die dank ihrer Großmutter Russisch spricht, wird sie zur Sonderbetreuung abkommandiert.
Mit 23 Jahren kaum älter, aber dafür bereits um Welten reifer, versteht sie sofort, dass sie hier ein verhätscheltes Peter Pan-Syndrom-Bubi vor der Nase hat. Aber sie gibt ihm dennoch ihre Nummer für weitere Treffen. Und so kommt es, dass Ani für 15.000 Dollar eine Woche als Vanyas angeheuerte Freundin auftritt, bis er ihr nach einem exzessiven Partywochenende in Las Vegas einen Heiratsantrag macht.
Wer hier an „Pretty Woman“ denkt, würde zunächst nicht ganz falsch liegen. Doch wo Richard Gere und Julia Roberts an diesem Punkt ihr Happy End fanden, ist Baker erst bei der Hälfte seines Films angekommen. Der Regisseur, der sich schon in Filmen wie „The Florida Projekt“ oder „Tangerine“ mit sozial benachteiligten Randgruppen wie Sexarbeitenden auseinandergesetzt hatte, denkt natürlich nicht daran, dass sich diese Spontanaktion in romantischen Wohlgefallen auflösen könnte. Für Vanya ist die Ehe eine Green Card, sodass er nicht nach Russland zurückmuss. Ani hingegen hat ein wenig zu sehr Gefallen an dem wilden Luxusleben gefunden.
Wilde Party und Sozialrealismus
Dass Vanyas Familie natürlich keine Freude daran hat, dass ihr Sohn eine Stripperin geheiratet hat, wird alsbald klar, als sie ihre Schergen zu deren Brooklyn-Anwesen schicken. Vanya flüchtet, Ani bleibt mit der armenisch-russischen Truppe (Karren Karagulian, Vache Tovmasyan und Yura Borisov) zurück. Die bedrohliche Konfrontation wandelt sich alsbald in slapstickhafte Komik, da drei erwachsene Männer mit dieser wild fluchenden und um sich kickenden Frau nicht fertig werden. Kurze Zeit später bildet sich eine quasi-Zwangsgemeinschaft, um Vanya zu finden, bevor seine Eltern am nächsten Tag eintreffen.
Hier wandelt sich die bis dahin wilde Party in den präzise beobachteten Sozialrealismus, den man von Baker kennt. Die Odyssee durch die nächtlichen Straßen New Yorks, die Neonschilder und Diners zollen Hommage an das New Hollywood der 1970er. Dass die Männer genauso Opfer der Launen reicher Oligarchen sind, schafft eine vorsichtige Allianz.
Dass Baker kein romantisch-rosiges Happy End für seine Figuren konzipiert hat, sollte nicht überraschen. Immerhin ist dies kein Film über die Liebe. Gerade das macht die letzten Minuten besonders ergreifend. Manche Statussymbole – wie Geld, Macht und soziale Klasse – sind einfach nicht zu überwinden.
Bewertung: ●●●●○
Mehr Kino
Susanne Gottlieb